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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Schäfer, Wilhelm: Von zwei Kulturen der Musik
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Schäfer, Wilhelm: Drei Lebensbücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0500

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Unter Form verstehe ich den großen Organismus als solchen,
in erster Linie die Sonatenform; unter Stil dasjenige, was das
Gestalten im einzelnen angeht. Freilich kann man so dieses wie
jenes als eine Form, als Geformtes bezeichnen, ich übernehme
aber die gebräuchlichen Ausdrücke: Fugenform, Sonatenform,
und halte mich deshalb daran, mit dem Begriff der Form den eines
Ganzen, eines Zusammenwirkens von organisierten Kräften zu
verbinden." -« *
*
„Die Fugenform ist die Form der Einheitlichkeit, die Sonaten-
form diejenige der Gegensätzlichkeit; die erstere hat es grundsätzlich
mit einem Thema zu tun, die letztere mit mehreren oder vielen.
Höre ich in einer Fuge ein zweites Thema, so weiß ich, daß dieses,
auch wenn es zuerst allein auftritt und für sich dargestellt ist, doch
auf die Dauer nicht allein bleiben, sondern sich zum ersten Thema
gesellen wird, daß es also direkt musikalisch auf dieses bezogen ist,
d. i. zu ihm kontrapunktiert. Das ist ja auch in der Sonatenform
möglich, aber es ist dort nicht im Wesen der Form begründet;
damit, daß ich dort ein zweites Thema höre, erwarte ich durchaus
noch nicht, daß es mit dem ersten zusammengeht — es wäre denn,
daß ich die Möglichkeit des Kontrapunktierens der beiden sogleich
heraushörte und also für diesen einzelnen Fall von dem Autor
erwartete, daß er die schöne Gelegenheit benutzt.
Also im Grund ist alles Geschehen in einer Fuge auf ein
Hauptthema bezogen. Damit ist die Fugenform auch äußerlich
beschränkt, sie kann nicht beliebig ausgedehnt werden, mindestens
verlangt sie nicht nach größerer Ausdehnung, was wir später
überdies noch mit ihrem engeren harmonischen Horizont begründen
werden. Ganz im Gegensatz hierzu ist die Sonatenform die eigentlich
unersättliche, die expansive Form, wie sie denn auch sowohl immer
größere Mittel als auch immer mehr Zeit in Anspruch genommen
hat: die Symphonie, das ist die Sonate für großes Orchester,
ist heute das Normale, und ungefähr eine Stunde oder noch mehr
ihr zu widmen erscheint uns ganz und gar selbstverständlich; da-
gegen werden sich nicht leicht drei oder zwei Fugen zu einem Ganzen
vereinigen, und eine Zehnminutenfuge ist uns schon ein langes
Stück. Kein Wunder: die Fuge bietet weniger Abwechslung, ja noch
obendrein: sie läßt keine Erholung zu, denn es fehlen ihr die Zäsuren,
an denen alle Stimmen teilnehmen, sie entläßt den Zuhörer nie
aus der Spannung. Ebensowenig oder noch weniger die Kom-
ponisten: Grund genug für ihre relative Kürze. Ein Sonatensatz
kann mehrere leere Stellen aufweisen: der Zuhörer verzeiht,
ja überhört sie. Er tröstet sich leicht, wenn nachher, etwa nach einer
der im klassischen Stil so beliebten Halbkadenzen, ein schönes oder
hübsches Thema einsetzt, und er läßt sich gern durch eine angenehme
Ueberraschung, eine interessante Episode wiedergewinnen; ja er
ist bei der leichteren Diktion in der Sonate stets bereit, eine aus-
klingende oder vorbereitende Zwischenstelle leichter zu nehmen,
sogar ihre Unzulänglichkeit zu übersehen. Die „stimmige" Struktur
der Fuge dagegen zwingt ihn von Anfang an, alles möglichst genau
zu hören und ernst zu nehmen; auch die „Zwischenspiele", obgleich
von minderem Gewicht, erfordern doch dieselbe Aufmerksamkeit
für die Führung der Stimme. Täuscht der Fugenkomponist einmal
die Erwartung, bringt er Oedes oder Ungehöriges vor, so hat er
viel mehr verloren, als der Sonatenkomponist, ja er kann mit
einem Mal alles verspielen, denn bei dein gleichmäßigen Fortschreiten
des Stücks, dem ununterbrochenen Gang der Musik schaltet er
die Hoffnung auf etwas Neues aus; er kann nicht so leicht etwas
reparieren. Die Fuge fordert in jedem Augenblick lebendigste
Gegenwart, volle musikalische Existenz. Eine Fuge zu schreiben
unternimmt also — wenn einer überhaupt weiß, was er tut — nur,
wer die hierzu nötige Kraft zu besitzen sich bewußt ist; nicht ein
Produkt der Gelehrsamkeit, wie man manchmal liest, sondern des
gesteigerten Könnens, und zwar des melodischen Könnens, ist die
Fuge, und die Liebe zu ihr ist ein Zeichen gleichermaßen von Ent-
sagung wie von Kraftgefühl, also durchaus ein Zeichen des künst-
lerischen Stolzes und Selbstvertrauens."
rei Lebensbücher.
Das Buch eines Dichters kann natürlich nichts anderes
sein als verdichtetes Leben; wenn ich also die beiden Romane
von Leonhard Adelt „Der Flieger" und Albert Steffen
„Die Erneuerung des Bundes" Lebensbücher nenne, kann das nur
den besonderen Sinn haben, daß die erzählende Kunst in beiden

dem Leben ungewöhnlich nahe geblieben sei; ich muß sogar noch die
besondere Einschränkung machen, daß es im strengen Sinn gar keine
epischen Bücher, sondern Konfessionen in episch-lyrischer Form
sind: aber dieser künstlerische Mangel ist mit einer Überfülle von
Leben mehr als bezahlt.
Am nächsten der Romanform bleibt noch das Buch von Adelt,
indem es die Entwicklung einer Fliegerseele darzustellen unter-
nimmt, wie einem friesischen Bauernsohn schon in der frühesten
Jugend Möwenflügel wachsen und zerbrechen und wie er dann mitten
hinein kommt in den Hetzbetrieb der modernen Motorfliegerei.
Gerade dies: die grauenvolle Leblosigkeit, mit der zwischen den
tausendjährigen Jkarusträumen der Menschheit und den modernen
Flugkünsten der knatternde Motor steht, das kommt in dem Buch
zu sinnbildlicher Darstellung. Cs ist dem Dichter damit das Miß-
geschick begegnet, von der Kritik mit einem der Fixfertigen ver-
wechselt zu werden, die jede neue Sensation um die uralte Belang-
losigkeit zu kleben bereit sind, die ihr Milieu nach der Konjunktur
wechseln: ein unbegreiflicher Irrtum vor diesem Buch, das so gar-
nicht fertig, garnicht gewandt und in seiner naiven Lyrik von einer
unbekümmerten Offenherzigkeit ist. Gerade von der Sensation
der modernen Flugplätze steht nichts in dem Buch, wohl aber
spricht eine von dieser neuen Wendung menschlichen Schicksals —
denn die Fliegerei ist als Erlebnis der Menschheit ein Stück von ihrem
Schicksal — trunkene Menschenseele davon, wie sich das ungeheure
Erlebnis in alte Träume mischt, wie Übermenschliches menschlich
wird und die kühnste Kurve einer Flugbahn doch auf der Erde
ihren Ausgang und ihr Ziel hat. Der als tumber Bauernsohn
begann, kehrt bäuerlich bewegt mit seiner jungen Frau in die Heimat
zurück, damit sie ihm dort das erste Kind gebäre: ein Bild rührender
Einfalt, das aber gerade dadurch mit der naiven Macht eines
Volksliedes wirkt.
Das Buch von Albert Steffen greift höher; der Heiland
selber erscheint als handelnde Figur am Schluß, nachdem wie damals
auch den Schächern das Kreuz aufgerichtet ist. Kein Glückstrunkener
schrieb es, sondern ein vom Seelenweh unserer Tage Gezeichneter;
auch nicht von den Ordentlichen spricht er, die sich im sozialen
Mietgebäude der menschlichen Kulturgemeinschaft eine behagliche
Wohnung eingerichtet haben, als ob dies, in behaglicher Ordnung
zu wohnen, der Sinn des Lebens sei: sondern von den Unordent-
lichen, die durch das Schicksal ihrer menschlichen Natur den Grau-
samkeiten des Daseins von Anfang ihres Lebens bis zur Sterbens-
stunde ausgeliefert sind. Ich wüßte aus der ganzen modernen
Literatur kein Buch, das tiefer an diese Dinge rührte, nicht im Sinn
des von tausend Agitatoren abgeleierten sozialen Elendes, sondern
im Sinn tiefmenschlicher Not und seelischer Verlorenheit. Seine
Wirkung ist weltenfern von dem Mitleid mit den Armen, wie es
aus den Dickensschen Weihnachtsglocken läutet: es ist eine Erschütte-
rung unseres Daseins, daraus seit Beginn des menschlichen Be-
wußtseins die Sehnsucht nach einer göttlicher: Tröstung kam,
mit der uns Steffen am Schluß seiner 200 Seiten entläßt, um uns
fürs erste nicht mehr loszulassen.
So klingt der Titel „Glückliche Menschheit", den Frederik van
Eden dem dritten dieser drei Lebensbücher gibt, wie eine Fanfare;
aber der Dichter, der uns den herrlichen „Kleinen Johannes" schrieb,
der nicht nur seine Bücher sondern auch sein Leben der Menschheit
opferte, ist nicht der Mann, Fanfaren zu blasen, und so interessant
dem Nationalökonomen die Schilderung seiner sozialen Experi-
mente sein mag: wertvoller als dies ist die Menschengestalt des
Dichters selber mit ihrem unwandelbaren Glauben, die daraus
für die moderne Menschheit ersteht. In seinen Reden an die ameri-
kanische Nation steht eine Jüngergestalt von evangelischer Schönheit
vor uns, kein Schwärmer sondern ein tief Gläubiger, in dem sich
Vernunft und Gefühl nicht bestreiten, sondern auf ihre göttliche
Herkunft besinnen und brüderlich beieinander sind.
Ich möchte all meinen Freunden wünschen, daß sie die drei
Lebensbücher in der Reihenfolge dieser Besprechung zu Weih-
nachten läsen. Sie würden etwas daraus gewinnen, was keine
Weihnachtspredigt zu geben vermag: das Gefühl einer demütigen
Lebensgläubigkeit, wie sie nicht bei den Armen sondern den Reichen
in: Geist immer sicherer sich als Grundlage einer menschlichen
Geineinschaft zu gestalten beginnt. Der Hochmut der Vernunft,
nicht sie selber, ist zu Ende, und das Zeitalter beginnt, wo sie demütig
dienen, statt herrschen will, wo das Höchste, was der Menschengeist
über sich vermochte, wo Gott von ihrer Hand geleitet wieder ins
Leben eintritt. N. T.


Verantwortlich: Wilhelm Schäfer. — Druck und Verlag: A. Bagel, Düsseldorf. — Kunstdruckpapier: I-W. Zanders, B.-Gladbach.
Alle redaktionellen Sendungen sind an den Herausgeber Wilhelm Schäfer in Vallendar a. Rh. erbeten.
Gür unverlangt« Manuskripte und Rezensionsexemplare wird kein« Verpflichtung übernommen. Rückporto ist beizulegen.
 
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