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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Walser, Robert: Meta
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Buchwald, Reinhard: Kritik und Literaturwissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0086

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Es trug sich zu, daß ich eines Nachts, nur noch dunkel
erinnere ich mich der kleinen aber rührenden Szene, von einer
wilden Trinkwanderung verstört und taumelnd heimkehrend,
in einer der monotonen Straßen der großen Stadt eine Frau
antraf, die mich aufforderte, mit ihr nach Hause zu gehen. Es war
keine schöne und doch eine schöne Frau. Entsprechend dem Zustand,
in welchem ich mich befand, richtete ich allerhand mich selber höchlich
belustigende, törichte, wenngleich vielleicht witzige Redensarten
an das nächtliche Geschöpf, wobei ich mit der Gabe, die den Leuten
eigen ist, die einen Rausch haben, merkte, daß ich ihr sehr amüsant
erschien. Noch mehr: ich gefiel ihr, und ich gewann den Eindruck,
daß sie sich einer liebenswürdigen Schwäche in bezug auf mich
hinzugeben begann. Ich wollte sie verlassen, doch sie ließ mich
nicht los, und sie sagte: „O, geh nicht von mir weg. Komm mit
mir, lieber Freund. Willst du kaltherzig sein und nichts empfinden
für mich? Nicht doch. Du hast viel getrunken, du kleines Kerlchen.
Trotzdem sieht man dir an, daß du lieb bist. Willst du nun böse
sein und mich so schmählich abweisen, wo doch ich dich so rasch
liebgewonnen habe? Nicht doch. O, wenn du wüßtest-- doch
man darf ja den Herren nicht mit Gefühlen kommen, sonst ver-
achten und verlachen sie unsereinen nur. Wenn du wüßtest, was
ich leide unter der Kälte, unter der Leere all dieser Sinnlichkeiten,
die mein trauerspielgleiches, schreckenerregendes Gewerbe sind.
Ich erschien mir bis heute nur immer wie ein Ungeheuer, wert,
mit Fußtritten behandelt zu werden. Ich habe jetzt eine milde,
süße, fromme Empfindung in mir, erweckt durch dich, mein Lieber,
und du, du willst mich jetzt wieder in den Scheusalabgrund zurück-
werfen? Nicht doch. Bleib, bleib, und komm mit mir. Wir wollen
die ganze Nacht verscherzen miteinander. O, ich werde dich zu
unterhalten wissen, du sollst sehen. Wer Freude hat, ist der nicht
am ehesten zur Unterhaltung geschaffen? Und ich, ich habe jetzt,
nach langer, langer Zeit, wieder einmal eine Freude. Weißt du,
was das für mich, die Entmenschte, bedeutet? Weißt du das?
Du lächelst? Du lächelst hübsch, und ich liebe dein Lächeln. Und
willst du nun lieblos, und ganz entfernt von aller schönen Freund-
schaft, treten auf die Freude, die ich bei deinem Anblick empfinde?
Willst du zerstören und zunichte machen, was mich glücklich, was
mich, nach so langer, langer Zeit, wieder einmal glücklich macht?
Süßer Freund! Soll ich, nachdem ich immer mit dem Grausen
und mit dem bleiernen Entsetzen mich habe einlassen müssen,
nun mich nicht auch einmal mit dem wahrhaftigen Verzügen be-
fassen dürfen? Sei nicht grausam. Bitte, bitte. Nein, du wirst
es nicht bereuen. Du wirst die Stunden, mit der Verachteten und
Entehrten zugebracht, willkommen heißen und in deinem Innern
s gnen. Sei weich und komm mit mir. Sei sonst meinetwegen
nie weich, aber jetzt, jetzt sei es und knüpfe vertraulich an mit der
Geschmähten. Sieh, wie die Tränen mir in die Augen kommen,
und höre, wie ich flehe. Wenn du gehst, ohne freundlich zu mir
zu sein, ist mir alles schwarz vor den Augen; hingegen, wenn du
lieb bist, strahlt in der Nacht die Helle Sonne. Sei du heute nacht
der glückversprechende, freundliche Stern an meinem Himmel.
Du bist gerührt? Du gibst mir die Hand? Du willst mit mir kommen?
Du liebst mich?"-
Nachwort: Könnte dies nicht Kirke sein, die den seefahrenden
ritterlichen Griechen bittet, bei ihr zu bleiben? Er will heim,
doch sie, sie fleht ihn an, sie nicht zu verlassen. Sie ist eine böse
Zauberin, die diejenigen, die sie anschaut, in grunzende Schweine
verwandelt. Sie bestreitet es zwar; sie sagt, sie sei keine böse Zau-
berin, sondern unterliege selber dem bösen Zauber. Das kann schon
möglich sein. Übrigens ist sie rührend scbön. Sie besitzt eine weiche,
lispelnde Stimme, und aus ihren meergrünen und -blauen Augen,
wie wir sie oft bei ausländischen Katzen sehen, bricht ein wunder-
barer, stolzer und lieber Glanz. Sie ist nicht unglücklich und doch
auch wieder nicht glücklich. Bei dem Griechen sucht und findet sie
ihr Glück, und nun will er sie verlassen, um zur harrenden Gattin
zurückzukehren. O zartes Trauerspiel. Unter anderen: sagt sie
ihm, daß die Gefährten sich ja ganz von selbst in Schweine ver-
Sandelt hätten. Nicht bei ihr, sondern bei ihnen selber sei die
Schande und die Schuld zu suchen. Weil sie wollen Schweine sein,
sind sie's. Sie lächelt, und in das Lächeln schleicht sich eine Träne,
wie ist ironisch und zugleich tiefernst, frivol und gleichzeitig schwer-
mütig. „Siehst du denn nicht," spricht sie, seine Hand erfassend,

„daß nicht ich die Zauberin jetzt bin, sondern daß du der Zauberer
bist? O, sei mein Freund, mein Schützer, mein lieber, herrlicher
Zauberer. Schütze mich vor der Kirke. Ich bin nicht die Kirke,
wenn du bei mir bist. Sie geht weg, wenn du nicht weggehst."
So redet sie und überschüttet ihn mit süßen Liebkosungen, doch er,
er-geht. Er überläßt sie der Kirke, er überläßt sie sich selbst,
er überläßt sie der ihr innewohnenden Grausamkeit, er überläßt
sie der Schmach, deren Sklavin sie ist. Kann er gehen? Ist er
so hart? Ro b ert W al s er.
ritik und Literaturwissenschaft.
(Harry Maync: Dichtung und Kritik. Eine Rechtfer-
tigung der Literaturwissenschaft. München, C. H. Beck, 1912.)
Die Literaturwissenschaft steht heute in einer Periode der
Angriffe und Apologien, die je nach den Seiten, von denen sie
ausgehen und gegen die sie sich richten, die verschiedensten Ge-
sichter zeigen; und Hand in Hand gehen damit mannigfache Ver-
suche, über die eigenen Ziele und Wege Klarheit zu gewinnen
und, wenn nötig, von anderen Wissenschaften zu lernen. Zu den
erfolgreichsten Bestrebungen, die aus dieser letzten Zusammen-
hängen hervorgewachsen sind, gehören Jakob Minors „unphilo-
logische" Faust-Erklärung, O. Walzels theoretische und praktische
Anläufe, neben die analytische eine synthetische Literaturbetrach-
tung zu stellen — wie er selber bekannt hat, durch Einwürfe seiner
Schüler aus anderen Fakultäten zuerst hervorgerufen —, und
neuerdings beispielsweise Meyer-Benfeys eigenartige Methodik
eines künstlerischen Verständnisses. Dagegen zu den Verteidigern
der älteren Wissenschaft, der Schererschen und nachschererschen
Schule, wie man wohl kurz sagen darf, gesellt sich jetzt Harry
Maync, der Nachfolger Walzels auf dem Berner Lehrstuhl, der
zuletzt als der Herausgeber der „Urmeister" bekannt geworden
ist und vorher mit einer Biographie Mörikes sowie mit Ausgaben
desselben Dichters und Immermanns hervorgetreten war.
Ich glaube, um es gleich vorwegzunehmen, nicht, daß Maync
seiner Sache denselben Dienst geleistet hat, wie vor zwei Jahren
Erich Schmidt durch seine Rektoratsrede über die „literarische
Persönlichkeit". Maync wendet sich, wie er betont, an ein brei-
teres Publikum und verzichtet auf eine systematische Darstellung
seines Stoffes, wohl doch nicht im vollen Bewußtsein dessen,
daß zur bequemer daherschreitenden und mehr andeutenden
Vortragssorm viel mehr künstlerische Eigenschaften gehören als
zum strengeren Aufbau. Dieser zwingt zugleich Redner und
Hörer, wirklich bis in die Tiefen und zu den Fundamenten hinab-
zusteigen; Maync wäre dann der Gefahr entgangen, an der Ober-
fläche zu bleiben. Es geht heute schlechterdings nicht mehr an,
den Gegensatz des Künstlers zum Kunsthistoriker aus der Eitelkeit
des ersteren herzuleiten, oder kurzweg zu behaupten, zu keiner
Zeit sei auch ein kleinerer Dichter durch die Kritik so rasch bekannt
gemacht und in seiner Entwicklung dauernd mit solcher Aufmerk-
samkeit begleitet worden, wie eben jetzt. „Selbst wenn noch ein
Talent sich in der Stille bilden will — es wird ihn: einfach nicht
mehr erlaubt; die Kritik stachelt es unablässig mit Zuckerbrot und
Peitsche, sie stellt ihm Aufgaben und steckt ihm Ziele, anstatt es
sich in seinem dunklen Drange den ihn: gemäßen rechten Weg
finden zu lassen." Es ist nicht klar, woher Maync dies so genau
wissen will. Auch historisch wird er seine These kaum aufrecht
halten können, wenn er einmal die Literaturzeitungen um 1800
und die Korrespondenzen der Klassiker und Romantiker daraufhin
durchblättert. Und ebenso ist seine Meinung, daß in der guten
alten Zeit die Dichter weniger besorgt um günstige Rezensionen
gewesen seien als heutzutage, selbstverständlich hinfällig; man
erinnere sich nur, wie Goethe kurzerhand Böttiger das Kritisieren
des Weimarer Theaters unmöglich machte und die Berichte fortan
sich selbst vorbehielt.
Wenn wir hier von unserem Problem abkommen, so ist das
nicht meine Schuld, sondern die von Maynes Broschüre, deren
Hauptfehler mir der zu sein scheint, daß er die wichtigste Frage
gar nicht stellt. Diese ist heute doch nicht die, ob die Literatur-
forschung wissenschaftlich ergebnisreich gewesen ist; das hat ernst-
lich nie ein vernünftiger Mensch bezweifelt. Es handelt sich im
Grunde bei allen Angriffen vielmehr um Fragen der Kunstpolitik
und Kunstpädagogik; darum, ob die heutige historische Kunst-
wissenschaft der künstlerischen Kultur Dienste geleistet hat und
zu leisten vermag. Eine Wissenschaft, deren Natur durchaus histo-
risch geworden ist — für die meisten Menschen ist Literaturwissen-


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