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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Zoff, Otto: Das Porträt der Gräfin Anna, 1
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Ohmann, Fritz: Neuere Kleistliteratur
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0078

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Das Porirät der Gräfin Anna.

bestürzt, beeilte sich, dem Grafen den Gefallen zu tun:
Als er der Gräfin das letzte Mal begegnet, habe er sie
unter anderem gefragt, warum man sie jetzt nie mehr
singen höre. Einst hätte sie doch an keinem Baum vorbei-
wandern können, ohne nicht vor Seligkeit aufzutrillern.
Ob sie überhaupt nicht mehr singe? Auch am Abend
nicht? Da hätte die Gräfin mit einer plötzlichen Traurig-
keit gestanden, er, der Graf, sähe es nicht gern, wenn
allzuviel laute Lustigkeit um ihn wäre. Er hätte damals
eingewendet, ein wenig Gesang sei doch noch lange
keine laute Lustigkeit. Das wisse sie nicht, hätte sie ihm
entgegnet; ihr stünde es nur zu, ihrem Manne jeden
Wunsch zu erfüllen, den sie erfüllen könne. Und des-
wegen hätte sie sich Lachen und Singen abgewöhnt. Es
wäre ja auch wirklich nicht notwendig. — Der Maler
schwieg und sah den Grafen groß, beinahe heraus-
fordernd an. Dieser stand auf und begann aufs neue
im Atelier auf und ab zu schreiten. Hie und da hielt
er vor einem Bilde, betrachtete es starren und sinnlosen
Blickes minutenlang. — „Hat sie gar nicht darüber ge-
klagt?" fragte er dann rasch, indem er sich mit einem
Ruck Zanetti zuwandte. — Nein, sie hätte gar nicht ge-
klagt; nur ihre Augen hätte Traurigkeit verdunkelt. —
Der Graf dankte und starrte vor sich hin. Seine Lippen
bebten. Dann ergriff er, wie im Traum, seinen Hut und
besann sich wieder. Dann blickte er auf, blinzelte, als
stäche ihn ein zu grelles Licht, ging auf Zanetti zu,
dankte ihm nochmals und verlegen, während er ihm die
Hand reichte, und ging still aus dem Zimmer.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
euere Kleistliteratur.
Hundert Jahre waren jüngst seit dem Tage
verflossen, an dem Heinrich von Kleist aus
einer Welt, die ihm allzu feindlich, fremd und schal
geworden war, sich stillschweigend entfernte; was damals
der Mitwelt nur ein gesellschaftlicher Skandal war,
haben wir als eine literargeschichtliche Katastrophe
begriffen, die uns zu festlichem Gedächtnis, zur Trauer
und Selbstprüfung stimmt. Ist ein bleibender Gelvinn
aus dem Schwall der Leitartikel, Jubiläumsbücher,
Feuilletons lind Festvorstellungen zu buchen? Es ist
wahr, noch nie hat ein Jubiläum dem lebendigen Ge-
dächtnis eines Künstlers durch das gedient, was um
des Jahrestages willen getan worden ist; aber da wir
sicher unwillig würden, wenn die Öffentlichkeit wie
am 50. Todestage teilnahmlos gewesen wäre, so
wollen wir uns auch der lauten Augenblicksbegeisterung
freuen. Sie ist doch ein Zeichen, wie sehr das Ver-
ständnis Kleists in die Breite gegangen ist. Die Zeit
des Beiseiteschiebens und gemeinen Scheltens ist vorbei.
Man ahnt seine Größe, und man müht sich, dem un-
erhörten Unglück dieses edelsten Lebenslaufes gerecht
zu werden. Kleist ist auf dem Wege, im oberflächlichsten
Sinne des Worts ein Klassiker zu werden.
Aber die Lebensauffassung, zu der uns seine Kunst
erhebt, fordert ein anderes Maß der Wertung. Es gilt
nicht, ein Leben aufzuklären, Irrwege zu entschuldigen,
Sonderbarkeiten der dichterischen Gestaltung aus Zeit-

einflüssen oder pathologischen Motiven zu rechtfer-
tigen oder um des „Gelungenen" willen mit in Kauf
zu nehmen, sondern: das Ganze des Kleistschen Schaf-
fens in seiner tiefen Einheit aufzufassen, als notwen-
digen Ausdruck eines höchsten Kunstideals und einer
einzigartigen Dichterkraft zu begreifen. Denn dies
begründet ihren höchsten Anspruch auf Klassizität.
Es gilt das Paradoxon zum Gemeingut zu machen,
daß das unvollkommenste und unmöglichste Bühnen-
stück, die „Penthesilea", das vollkommenste Drama
unserer Zeit ist, weil es, in jedem Wort mit eigenem
Erleben getränkt, doch ein Maximum von Gestaltungs-
kraft, von Objektivität offenbart.
Darum ist es eine kleine Angelegenheit, ob wir
denr Menschen Kleist das gebührende Mitleid zollen,
ob unsere Zeit sich vor ähnlicher Verkennung ihrer
Besten besser zu wahren wisse; aber es ist die größte
Angelegenheit unserer ästhetischen Kultur, daß wir
reif werden für Kleists Dichtung und, was schwerer-
ist, für das, wofür seine Dichtung gleichsam nur ein
Programm, ein vorläufiges Beispiel, eine, ihr fernes
Ziel verschweigende, Verkünderin ist. Darin liegt ja
das Geheimnis, und alle die ahnen es, denen Kleist
heute der Lehrmeister und ein Ansporn zum heiligen
Ringen um die Form, die Form des Dramatischen
oder Epischen wird: hier ist eine Kunst, die gar nichts
bedeutet, gar nichts meint und will, die nur gestaltet,
nur diese Penthesilea lebendig macht, von diesem sin-
gulären Michael Kohlhaas erzählt und nur erzählt —
und doch eine Kunst, die alles bedeutet, die auf eine
Welt geht, in der Michael Kohlhaas und Käthchen und
Penthesilea nur noch Namen sind für ein Tieferes,
immer Gleiches — Kleist? die Welt? ich? das Schick-
sal? die Seele?
„Mein Gemüt — ist das nicht mein Schicksal?"
„Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel."
Wie von fern rührt ein Bekenntnis der Briefe, ein
Wort des Dramas an das Unsagbare.
Dieses tiefere Verständnis kann uns nur in Mo-
menten mit einem zuckenden Strahl aufleuchten, wie
der Alkmene das Mysterium der Gottheit und Gottes-
weihe in einer letzten Steigerung und Spannung des
Gefühls aufblitzt, beseligend und zugleich vernichtend.
Aber dann gilt es erst, dieses Nacherleben in Darstellung
und Würdigung umzusetzen und dadurch unserer Kultur
anzueignen: denn wissenschaftlich, literarhistorisch be-
trachten, was heißt das im Grunde anders, als die
Zauberkraft des Wortes, durch die der Dichter das
Unaussprechliche erlebbar macht, an dem so Objekti-
vierten und doch nicht minder Unaussprechlichen zu
erneuern?
Damit wäre die höchste Forderung gezeichnet, die
wir an die Kleistforschung zu stellen haben; ihr wird
noch keine der Arbeiten gerecht, die, mehr oder minder
zufällig, gerade jetzt um die Zeit des Jubiläums er-
schienen sind. Um es gleich zu sagen, am tiefsten dringt
noch W. Herzog mit seiner großen Kleistbiographie
(München, Beck); ein in manchem bedeutender Anlauf
ist auch die gründliche Analyse von H. Meyer-Benfey:
„Das Drama H. v. Kleists I. Teil (Göttingen, Häpke).
Auf wertvolle Einzelstudien und Vorarbeiten, wie


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