ie politische Haltung und Wirk-
samkeit der deutschen Philosophen
vor 1OO Jahren.
Wer in Fichtes „Grundzügen des gegenwärtigen
Zeitalters", die im Jahre 1804 entstanden und 1806
erschienen, die Schilderung der damaligen privaten
und öffentlichen Zustände, der herrschenden Gesinnung
und Gesittung liest, ist zunächst gegenüber dem Urteil
des Philosophen erstaunt und ungläubig. Die Menschen,
sagt Fichte, sind bar aller ethischen, überpersönlichen
Wertung des Lebens; sie haben für nichts mehr Sinn,
was über das eigene Interesse hinausgeht, weder für
den Staat, noch für die Religion. Sie sind gänzlich der
Aufklärung verfallen, die nur noch gelten läßt, was die
Erfahrung liefert und der Verstand auf Begriffe bringen
kann. Das eigene Dasein und das eigene Wohlsein
sind ihr einziges Ziel, der platteste Egoismus ist ihre
Maxime. Dieses Zeitalter trägt den Charakter der „voll-
endeten Sündhaftigkeit". Wie stimmt ein solches Urteil
überein mit unserer Vorstellung von jener Zeit, die wir
die hohe Zeit des Idealismus nennen, in der eine selten
große Zahl der bedeutendsten Dichter und Philosophen
eine ganz neue und edle Form der Lebensgestaltung
und Weltanschauung schufen? Und doch ist das strenge
Urteil Fichtes, ist das nicht weniger strenge des Frei-
herrn von Stein über ihre Zeit richtig. Die Vertreter
jenes Idealismus waren im Anfang eine einsam kämp-
fende, kleine Elite, der die große Menge und die Schar
der Durchschnittsliteraten fremd gegenüberstanden; und
diese huldigten nach dem Zeugnis aller einsichtigen
Beobachter den Zielen einer bloß äußerlichen Zivili-
sation und dem Suchen nach egoistischer Glückseligkeit.
Erst indem die idealistische Weltanschauung, wie sie
die Dichter und Philosophen schufen, der allgemeinen
Verderbnis entgegentrat, wurde eine Regeneration des
Volkes herbeigeführt, die sich dann in der Befreiung
des Vaterlandes bewährte und befestigte. Die sittlichen
Mächte mußten wieder im Volke geweckt und wirksam
werden, ehe es den Willen und die Kraft in sich fand,
der Fremdherrschaft ein Ende zu bereiten. Es hat in
dieser Zeit, neben der Dichtung, vor allem auch die
Philosophie unmittelbar die Lebens- und Schicksals-
gestaltung der Nation mitbestimmt. Ja, sie trat aus ihrer
sonstigen Abgeschlossenheit direkt hinaus zur Tat:
Schleiermachers und Fichtes Wirksamkeit können in
ihrer Bedeutung für die Entfachung des National-
gefühls und die Erhebung Preußens nicht leicht über-
schätzt werden.
Die Philosophie in ihrer damaligen glänzenden Ent-
faltung erschien als ein voller Gegensatz zu dem herr-
schenden Individualismus: ihre gesamten Lehren wuchsen
aus dem Prinzip einer überpersönlichen Welt- und
Lebenseinheit hervor, von dem das Leben des Einzelnen
allen Wert und Zweck empfangen sollte. Und die sitt-
lichen Grundsätze, die damit gegeben waren, drangen
allmählich in weite Kreise des Volkes und erzeugten
hier vor allem die opferbereite Überzeugung, die Glieder
und Diener eines über das Individuum hinausgreifenden,
staatlichen und allgemein-geistigen Ganzen zu sein. So
wirkte die Philosophie damals in ihrer Gesamtheit
und rein als Weltanschauungslehre. Dabei war die poli-
tische Haltung der einzelnen Philosophen sehr verschieden.
Zwar wurde sie bei den meisten von ihnen durch jene
idealistische Auffassung vom Wesen des Staates bestimmt;
aber die nahm im Kopfe eines jeden eine andere Gestalt
an, und so waren es die persönlichen Bedingungen und
Überzeugungen, die hier ihren Einfluß ausüblen. Es
war nicht anders wie bei den deutschen Dichtern; so
wie unter diesen die Anteilnahme an den politischen
Ereignissen sich abstufte von der kühlen Zurückgezogenheit
Goethes bis zu dem glühenden Eifer Kleists, so spiegelte
sich auch in dem Herzen der Philosophen die Not der Zeit
in verschiedenstem Grade und in mannigfacher Art.
Hegel steht in seinem Verhalten Goethe am nächsten.
Er ist gleich diesem ein Bewunderer Napoleons, und der
patriotischen Begeisterung der Zeit bleibt er gänzlich
fern. An seinem Glauben, daß Europa unfähig sei,
mit dem großen Völkerbezwinger fertig zu werden, hält
er so lange fest, bis ihm die Ereignisse das Gegenteil
beweisen. Er, dessen Lehre später sozusagen die offiziell
geltende preußische Staatsphilosophie wurde, verachtet
in der Periode des Niederganges das preußische Wesen
so sehr, daß er vor der Schlacht bei Jena den Preußen
die Niederlage als eine verdiente Lektion prophezeit und
wünscht. Das geistlose und öde Reglementieren, in
dem sich damals das Regieren in Preußen erschöpfte,
war ihm zuwider, und die ganze unglückselige Vor-
geschichte und Führung des Krieges erregten seinen
höchsten Unmut. Diese Haltung hat man dem Philo-
sophen häufig als „schmählichen" Unpatriotismus vor-
geworfen; doch ist ein solches Urteil sehr kurzsichtig
und von einem beschränkten Standpunkt aus gefällt, der
einem Menschen von der überragenden Größe Hegels
nicht gerecht werden kann.
Hegels Verhalten entsprang mit jener unerbittlichen
Folgerichtigkeit, die diesem Philosophen überhaupt
eigentümlich ist, seiner Weltanschauung und war ihr
völlig angemessen. Sein Standpunkt war darin derjenige
des geschichtsphilosophischen Denkers, der über der gegen-
wärtigen historischen Wirklichkeit steht und sie als ein Glied
in dem großen Gange der Weltgeschichte betrachtet und
beurteilt. Das gibt seiner Haltung das Recht, so wie das
über den Alltag erhabene geistige Wesen dem Dichter
Goethe das Recht zu seiner Haltung gab, mochte beiden
auch nachher die Tatsachenentwicklung widersprechen.
Für Hegel ist die Weltgeschichte die Selbstentfaltung
der Vernunft oder des göttlichen Geistes; sie ist sein
notwendiger Gang, in welchem er als der Weltgeist
zu sich selber kommt. Das Wahrhafte des Geistes aber
ist die Freiheit, d. h. das „Beisichselbersein" oder Selbst-
bewußtsein, in einem überpersönlich allgemeinen Sinne
genommen; und so ist die Geschichte der Fortschritt im
Bewußtsein der Freiheit, ihr Endzweck die Wirklichkeit
der Freiheit. Nicht diejenige des Einzelnen als indi-
viduelle Selbstbestimmung ist damit gemeint, sondern
die Freiheit als eine überpersönliche, objektive Er-
scheinung, wie sie im Staate da ist. Im Staate wird
dem Menschen seine geistige Wesenheit gegenständlich
und hat ein objektives unmittelbares Dasein für ihn;
hier ist die Einheit des allgemeinen, wesentlichen Wollens
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samkeit der deutschen Philosophen
vor 1OO Jahren.
Wer in Fichtes „Grundzügen des gegenwärtigen
Zeitalters", die im Jahre 1804 entstanden und 1806
erschienen, die Schilderung der damaligen privaten
und öffentlichen Zustände, der herrschenden Gesinnung
und Gesittung liest, ist zunächst gegenüber dem Urteil
des Philosophen erstaunt und ungläubig. Die Menschen,
sagt Fichte, sind bar aller ethischen, überpersönlichen
Wertung des Lebens; sie haben für nichts mehr Sinn,
was über das eigene Interesse hinausgeht, weder für
den Staat, noch für die Religion. Sie sind gänzlich der
Aufklärung verfallen, die nur noch gelten läßt, was die
Erfahrung liefert und der Verstand auf Begriffe bringen
kann. Das eigene Dasein und das eigene Wohlsein
sind ihr einziges Ziel, der platteste Egoismus ist ihre
Maxime. Dieses Zeitalter trägt den Charakter der „voll-
endeten Sündhaftigkeit". Wie stimmt ein solches Urteil
überein mit unserer Vorstellung von jener Zeit, die wir
die hohe Zeit des Idealismus nennen, in der eine selten
große Zahl der bedeutendsten Dichter und Philosophen
eine ganz neue und edle Form der Lebensgestaltung
und Weltanschauung schufen? Und doch ist das strenge
Urteil Fichtes, ist das nicht weniger strenge des Frei-
herrn von Stein über ihre Zeit richtig. Die Vertreter
jenes Idealismus waren im Anfang eine einsam kämp-
fende, kleine Elite, der die große Menge und die Schar
der Durchschnittsliteraten fremd gegenüberstanden; und
diese huldigten nach dem Zeugnis aller einsichtigen
Beobachter den Zielen einer bloß äußerlichen Zivili-
sation und dem Suchen nach egoistischer Glückseligkeit.
Erst indem die idealistische Weltanschauung, wie sie
die Dichter und Philosophen schufen, der allgemeinen
Verderbnis entgegentrat, wurde eine Regeneration des
Volkes herbeigeführt, die sich dann in der Befreiung
des Vaterlandes bewährte und befestigte. Die sittlichen
Mächte mußten wieder im Volke geweckt und wirksam
werden, ehe es den Willen und die Kraft in sich fand,
der Fremdherrschaft ein Ende zu bereiten. Es hat in
dieser Zeit, neben der Dichtung, vor allem auch die
Philosophie unmittelbar die Lebens- und Schicksals-
gestaltung der Nation mitbestimmt. Ja, sie trat aus ihrer
sonstigen Abgeschlossenheit direkt hinaus zur Tat:
Schleiermachers und Fichtes Wirksamkeit können in
ihrer Bedeutung für die Entfachung des National-
gefühls und die Erhebung Preußens nicht leicht über-
schätzt werden.
Die Philosophie in ihrer damaligen glänzenden Ent-
faltung erschien als ein voller Gegensatz zu dem herr-
schenden Individualismus: ihre gesamten Lehren wuchsen
aus dem Prinzip einer überpersönlichen Welt- und
Lebenseinheit hervor, von dem das Leben des Einzelnen
allen Wert und Zweck empfangen sollte. Und die sitt-
lichen Grundsätze, die damit gegeben waren, drangen
allmählich in weite Kreise des Volkes und erzeugten
hier vor allem die opferbereite Überzeugung, die Glieder
und Diener eines über das Individuum hinausgreifenden,
staatlichen und allgemein-geistigen Ganzen zu sein. So
wirkte die Philosophie damals in ihrer Gesamtheit
und rein als Weltanschauungslehre. Dabei war die poli-
tische Haltung der einzelnen Philosophen sehr verschieden.
Zwar wurde sie bei den meisten von ihnen durch jene
idealistische Auffassung vom Wesen des Staates bestimmt;
aber die nahm im Kopfe eines jeden eine andere Gestalt
an, und so waren es die persönlichen Bedingungen und
Überzeugungen, die hier ihren Einfluß ausüblen. Es
war nicht anders wie bei den deutschen Dichtern; so
wie unter diesen die Anteilnahme an den politischen
Ereignissen sich abstufte von der kühlen Zurückgezogenheit
Goethes bis zu dem glühenden Eifer Kleists, so spiegelte
sich auch in dem Herzen der Philosophen die Not der Zeit
in verschiedenstem Grade und in mannigfacher Art.
Hegel steht in seinem Verhalten Goethe am nächsten.
Er ist gleich diesem ein Bewunderer Napoleons, und der
patriotischen Begeisterung der Zeit bleibt er gänzlich
fern. An seinem Glauben, daß Europa unfähig sei,
mit dem großen Völkerbezwinger fertig zu werden, hält
er so lange fest, bis ihm die Ereignisse das Gegenteil
beweisen. Er, dessen Lehre später sozusagen die offiziell
geltende preußische Staatsphilosophie wurde, verachtet
in der Periode des Niederganges das preußische Wesen
so sehr, daß er vor der Schlacht bei Jena den Preußen
die Niederlage als eine verdiente Lektion prophezeit und
wünscht. Das geistlose und öde Reglementieren, in
dem sich damals das Regieren in Preußen erschöpfte,
war ihm zuwider, und die ganze unglückselige Vor-
geschichte und Führung des Krieges erregten seinen
höchsten Unmut. Diese Haltung hat man dem Philo-
sophen häufig als „schmählichen" Unpatriotismus vor-
geworfen; doch ist ein solches Urteil sehr kurzsichtig
und von einem beschränkten Standpunkt aus gefällt, der
einem Menschen von der überragenden Größe Hegels
nicht gerecht werden kann.
Hegels Verhalten entsprang mit jener unerbittlichen
Folgerichtigkeit, die diesem Philosophen überhaupt
eigentümlich ist, seiner Weltanschauung und war ihr
völlig angemessen. Sein Standpunkt war darin derjenige
des geschichtsphilosophischen Denkers, der über der gegen-
wärtigen historischen Wirklichkeit steht und sie als ein Glied
in dem großen Gange der Weltgeschichte betrachtet und
beurteilt. Das gibt seiner Haltung das Recht, so wie das
über den Alltag erhabene geistige Wesen dem Dichter
Goethe das Recht zu seiner Haltung gab, mochte beiden
auch nachher die Tatsachenentwicklung widersprechen.
Für Hegel ist die Weltgeschichte die Selbstentfaltung
der Vernunft oder des göttlichen Geistes; sie ist sein
notwendiger Gang, in welchem er als der Weltgeist
zu sich selber kommt. Das Wahrhafte des Geistes aber
ist die Freiheit, d. h. das „Beisichselbersein" oder Selbst-
bewußtsein, in einem überpersönlich allgemeinen Sinne
genommen; und so ist die Geschichte der Fortschritt im
Bewußtsein der Freiheit, ihr Endzweck die Wirklichkeit
der Freiheit. Nicht diejenige des Einzelnen als indi-
viduelle Selbstbestimmung ist damit gemeint, sondern
die Freiheit als eine überpersönliche, objektive Er-
scheinung, wie sie im Staate da ist. Im Staate wird
dem Menschen seine geistige Wesenheit gegenständlich
und hat ein objektives unmittelbares Dasein für ihn;
hier ist die Einheit des allgemeinen, wesentlichen Wollens
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