Typen aus der „varnnation ä« Must" von Berlioz.
verleihen, indem wir es schonen, sanft berühren und
ihm die Poesie nicht rauben, die allem Bestehenden
doch irgendwie eigen ist. Was man roh genießt, wird
bitter und entwürdigt den Genießenden. Was man
genießt, als sei man ein zu Gast geladener Fremder,
bleibt uns wert und macht uns edler.
Das lernt man in keiner Schule so gut wie in der
des Entbehrens. Du bist in deinem Lande nicht zu-
frieden? Du weißt von schöneren, reicheren, wärmeren?
Und du reisest deiner Sehnsucht nach. Du wanderst
in andere Länder, die schöner und sonniger sind. Dein
Herz geht dir weit auf, mildere Himmel Überspannen
dein neues Glück. Das ist nun dein Paradies — aber
warte noch, ehe du es lobst! Warte wenige Jahre,
nur ein wenig über die erste Freude und die erste Jugend
hinaus! Und die Zeit kommt, da du Berge ersteigst,
um von dort die Stelle des Himmels zu suchen, unter
welcher deine alte Heimat liegt. Wie waren dort die
Hügel weich und grün! Und du weißt und du fühlst,
dort steht noch das Haus und der Garten deiner ersten
Kinderspiele und dort träumen alle heiligen Erinnerungen
deiner Jugend, und dort liegt das Grab deiner Mutter.
So ist dir die alte Heimat ungewollt lieb und fern
geworden, und die neue Heimat fremd und allzu nah.
Und so ist es mit allem Besitze und mit allen Gewöh-
nungen unseres armen, unruhigen Lebens.
ypen aus der „Oamnation <1e
kraust" von Berlioz.
I.
Ein dröhnendes Behagen fühlt sich in tiefen Kellern
geborgen, nährt sich vom Widerhall, den Auerbachs
Weinverließe spenden. Doch gilt es hier nicht nur
Trinkerlust und -seligkeit; nein, Berlioz weiß, daß wir
da in deutschem Keller und bei Germanen zu Gast
sind: und so mischt er noch die bezeichnende Farbe von
Überzeugung, von Schwere, ja, wie man fast sagen
möchte, von verdrossener Berufstreue in das Gemälde.
Diese hier zechen nämlich nicht bloß, weil sie Durst
haben und weil der Wein ihnen mundet, sondern auch
und vor allem weil sie eben Aecher sind, die des Trinkens
als eines hohen Amtes walten: weshalb sie eben auch
solches ihr Tun in den festen Formen einer gebieterischen
Tradition würdig vor sich gehen lassen. Es ist der
„Komment", den Berlioz ins Musikalische übersetzt,
indem er unter die liedmäßigen Partien hinein die
strengere Form der kanonischen Imitation andeutet, und
es ist nur die Konsequenz dieses Pflichtbewußtseins,
daß nach Branders Sololied den Manen der Ratte
ein R-squiescut und eine Fuge über das „Amen" ge-
bracht wird.
Wir befinden uns halt in einer besonderen Welt,
die ihre eigenen unterirdischen Gesetze hat.
Aber, o weh! Wie wird sie ausfallen, diese Fuge!
Wollen wir nicht lieber gleich die Ohren zuhalten, bis
sie vorüber ist? Oder wollen wir's wagen, vorerst einmal
probeweise zuzuhören? Denn, man denke: eine Fuge,
von solchen Kumpanen gesungen, und nicht nur gesungen,
592
sondern improvisiert! Was für Klänge, welche Kari-
katur von Polyphonie, welche Anarchie von Kontra-
punkt werden auf uns losstürmen! Gäbe es eine
lockendere Gelegenheit für Berlioz, den Fugenhasser,
sich einen grimmen Spaß mit dieser Form zu machen,
als hier, wo er durch das Gebot realistischen Schilderns
sich gedeckt weiß?
Nun: die Fuge gehört, dank der Kunst und Sorg-
falt des Autors, zu den schönsten unter den kurzen
Vokalfugen überhaupt, und es sei angelegentlich emp-
fohlen, die Sinne für sie offen zu halten, so gut es nur
immer geht.
Ja, wie steht es nun aber um den Komponisten?
Sollte er die Situation vergessen lassen? Wie? Oder
wäre Berlioz am Ende gar kein Realist? und noch weniger
Verist? Oder — was auch sein könnte: verschmähte
er, das eine wie das andere zu sein, wo der Realismus
von guter Arbeit Dispens erteilte, wo der Verismus
billige Ware zuließe?
Ich habe noch eine Überraschung für Sie — Sie
werden sich wundern! Nämlich es verlautet, daß manche
Menschen dennoch die Ohren zuhalten vor dieser Fuge —
nein, daß sie sogar die Konzertsaaltüre vor ihr ver-
schlossen halten. Es soll, so lautet eine dunkle Sage,
vorgekommen sein, daß man dieses prächtige Stück aus-
gelassen, oder sagen wir: unterschlagen hat, als das
Werk aufgeführt wurde, aus Angst, seine Frivolität
möchte religiöse Gefühle beleidigen. Wenn das wahr
ist, so hätte man überlegen sollen, ob das Weglassen
nicht vielmehr eine Frivolität gegen das Werk des
Künstlers wäre, die schwerer wiegt!
Außerdem: ist sie denn wirklich frivol, diese Fuge?
Ja, wenn sie schlecht, wenn sie liederlich gearbeitet wäre,
wenn sie das Werk degradierte! Aber sie ist ja ganz
im Gegenteil außerordentlich gut; sie ist sogar, wie
mich dünkt, edel gehalten, bis gegen den Schluß hin
wenigstens. Und was geht's uns dann an, wenn sie
anders gemeint ist? Freilich zwar, gegen das Ende zu
gibt es eine böse Stelle. Da nämlich, wo der übliche
Orgelpunkt einsetzt, hören wir das „Amen" auf kurze
wiederholte Noten gesungen, in quakenden Lauten
vorgetragen. Ist das ein Hohn auf das Wort „Amen"?
Vielleicht; aber ein unverletzliches Heiligtum ist uns
dieses Wort der hebräischen Sprache doch wohl nicht!
Sicherlich aber ist es ein Hohn auf eine gewisse Art der
Komposition von Worten, welche zu verhöhnen keines-
wegs frivol noch auch nur unerlaubt ist! Wendet man
ein, daß ein Kunstwerk nicht dazu dienen dürfe: gut,
so werte man offen nach künstlerischen Gesetzen; nicht
aber bringe man religiöse Bedürfnisse zum Angriff auf
das Werk daher! Also sage man klar und bestimmt,
daß Scherze und Persiflagen in einem Kunstwerk nicht
statthaben. Das läßt sich hören, und ich möchte nichts
dagegen vorbringen. Nur gebe ich für diese Stelle
zu bedenken, daß ihr das Burleske nicht als Wesentliches
eigen ist. Der Vortrag ist komisch, ja; aber diese Sequenz
ließe sich auch gelassen, mit würdigen Notenwerten, in
gedehnter Diktion singen. Ist es somit nicht wesentlich,
daß die Viertel in Achtel gespalten sind, so ist eben auch
nur das Akzidentielle komisch. Ferner wäre noch ein
anderes zu erwägen.
verleihen, indem wir es schonen, sanft berühren und
ihm die Poesie nicht rauben, die allem Bestehenden
doch irgendwie eigen ist. Was man roh genießt, wird
bitter und entwürdigt den Genießenden. Was man
genießt, als sei man ein zu Gast geladener Fremder,
bleibt uns wert und macht uns edler.
Das lernt man in keiner Schule so gut wie in der
des Entbehrens. Du bist in deinem Lande nicht zu-
frieden? Du weißt von schöneren, reicheren, wärmeren?
Und du reisest deiner Sehnsucht nach. Du wanderst
in andere Länder, die schöner und sonniger sind. Dein
Herz geht dir weit auf, mildere Himmel Überspannen
dein neues Glück. Das ist nun dein Paradies — aber
warte noch, ehe du es lobst! Warte wenige Jahre,
nur ein wenig über die erste Freude und die erste Jugend
hinaus! Und die Zeit kommt, da du Berge ersteigst,
um von dort die Stelle des Himmels zu suchen, unter
welcher deine alte Heimat liegt. Wie waren dort die
Hügel weich und grün! Und du weißt und du fühlst,
dort steht noch das Haus und der Garten deiner ersten
Kinderspiele und dort träumen alle heiligen Erinnerungen
deiner Jugend, und dort liegt das Grab deiner Mutter.
So ist dir die alte Heimat ungewollt lieb und fern
geworden, und die neue Heimat fremd und allzu nah.
Und so ist es mit allem Besitze und mit allen Gewöh-
nungen unseres armen, unruhigen Lebens.
ypen aus der „Oamnation <1e
kraust" von Berlioz.
I.
Ein dröhnendes Behagen fühlt sich in tiefen Kellern
geborgen, nährt sich vom Widerhall, den Auerbachs
Weinverließe spenden. Doch gilt es hier nicht nur
Trinkerlust und -seligkeit; nein, Berlioz weiß, daß wir
da in deutschem Keller und bei Germanen zu Gast
sind: und so mischt er noch die bezeichnende Farbe von
Überzeugung, von Schwere, ja, wie man fast sagen
möchte, von verdrossener Berufstreue in das Gemälde.
Diese hier zechen nämlich nicht bloß, weil sie Durst
haben und weil der Wein ihnen mundet, sondern auch
und vor allem weil sie eben Aecher sind, die des Trinkens
als eines hohen Amtes walten: weshalb sie eben auch
solches ihr Tun in den festen Formen einer gebieterischen
Tradition würdig vor sich gehen lassen. Es ist der
„Komment", den Berlioz ins Musikalische übersetzt,
indem er unter die liedmäßigen Partien hinein die
strengere Form der kanonischen Imitation andeutet, und
es ist nur die Konsequenz dieses Pflichtbewußtseins,
daß nach Branders Sololied den Manen der Ratte
ein R-squiescut und eine Fuge über das „Amen" ge-
bracht wird.
Wir befinden uns halt in einer besonderen Welt,
die ihre eigenen unterirdischen Gesetze hat.
Aber, o weh! Wie wird sie ausfallen, diese Fuge!
Wollen wir nicht lieber gleich die Ohren zuhalten, bis
sie vorüber ist? Oder wollen wir's wagen, vorerst einmal
probeweise zuzuhören? Denn, man denke: eine Fuge,
von solchen Kumpanen gesungen, und nicht nur gesungen,
592
sondern improvisiert! Was für Klänge, welche Kari-
katur von Polyphonie, welche Anarchie von Kontra-
punkt werden auf uns losstürmen! Gäbe es eine
lockendere Gelegenheit für Berlioz, den Fugenhasser,
sich einen grimmen Spaß mit dieser Form zu machen,
als hier, wo er durch das Gebot realistischen Schilderns
sich gedeckt weiß?
Nun: die Fuge gehört, dank der Kunst und Sorg-
falt des Autors, zu den schönsten unter den kurzen
Vokalfugen überhaupt, und es sei angelegentlich emp-
fohlen, die Sinne für sie offen zu halten, so gut es nur
immer geht.
Ja, wie steht es nun aber um den Komponisten?
Sollte er die Situation vergessen lassen? Wie? Oder
wäre Berlioz am Ende gar kein Realist? und noch weniger
Verist? Oder — was auch sein könnte: verschmähte
er, das eine wie das andere zu sein, wo der Realismus
von guter Arbeit Dispens erteilte, wo der Verismus
billige Ware zuließe?
Ich habe noch eine Überraschung für Sie — Sie
werden sich wundern! Nämlich es verlautet, daß manche
Menschen dennoch die Ohren zuhalten vor dieser Fuge —
nein, daß sie sogar die Konzertsaaltüre vor ihr ver-
schlossen halten. Es soll, so lautet eine dunkle Sage,
vorgekommen sein, daß man dieses prächtige Stück aus-
gelassen, oder sagen wir: unterschlagen hat, als das
Werk aufgeführt wurde, aus Angst, seine Frivolität
möchte religiöse Gefühle beleidigen. Wenn das wahr
ist, so hätte man überlegen sollen, ob das Weglassen
nicht vielmehr eine Frivolität gegen das Werk des
Künstlers wäre, die schwerer wiegt!
Außerdem: ist sie denn wirklich frivol, diese Fuge?
Ja, wenn sie schlecht, wenn sie liederlich gearbeitet wäre,
wenn sie das Werk degradierte! Aber sie ist ja ganz
im Gegenteil außerordentlich gut; sie ist sogar, wie
mich dünkt, edel gehalten, bis gegen den Schluß hin
wenigstens. Und was geht's uns dann an, wenn sie
anders gemeint ist? Freilich zwar, gegen das Ende zu
gibt es eine böse Stelle. Da nämlich, wo der übliche
Orgelpunkt einsetzt, hören wir das „Amen" auf kurze
wiederholte Noten gesungen, in quakenden Lauten
vorgetragen. Ist das ein Hohn auf das Wort „Amen"?
Vielleicht; aber ein unverletzliches Heiligtum ist uns
dieses Wort der hebräischen Sprache doch wohl nicht!
Sicherlich aber ist es ein Hohn auf eine gewisse Art der
Komposition von Worten, welche zu verhöhnen keines-
wegs frivol noch auch nur unerlaubt ist! Wendet man
ein, daß ein Kunstwerk nicht dazu dienen dürfe: gut,
so werte man offen nach künstlerischen Gesetzen; nicht
aber bringe man religiöse Bedürfnisse zum Angriff auf
das Werk daher! Also sage man klar und bestimmt,
daß Scherze und Persiflagen in einem Kunstwerk nicht
statthaben. Das läßt sich hören, und ich möchte nichts
dagegen vorbringen. Nur gebe ich für diese Stelle
zu bedenken, daß ihr das Burleske nicht als Wesentliches
eigen ist. Der Vortrag ist komisch, ja; aber diese Sequenz
ließe sich auch gelassen, mit würdigen Notenwerten, in
gedehnter Diktion singen. Ist es somit nicht wesentlich,
daß die Viertel in Achtel gespalten sind, so ist eben auch
nur das Akzidentielle komisch. Ferner wäre noch ein
anderes zu erwägen.