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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Benn, Joachim: Altdeutsche Novellen
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Schäfer, Wilhelm: Limo, der große beständige Diener
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0172

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Versform, die uns als spielerisch und reimklingelnd erscheint und
dem Übersetzer große Schwierigkeiten macht. Da Übersetzen ein
Ändern, aus der Derssprache in Prosa Übertragen wieder ein Ändern
ist, und hier noch im besonderen Maße, weil Reim und Versfuß
der mittelhochdeutschen Dichtung zu uferloser Breite drängte, was
dem Wesen der Prosanovelle widerspricht, sind diese Übertragungen
mehr oder weniger Umformungen. Und man könnte fragen, ob es
unter diesen Umständen nicht noch richtiger gewesen wäre, die
Stoffe ganz frei zu benutzen: Die Formel wenigstens, mit der der
Verlag die Sammlung anpreist, es wäre das Bestreben gewesen,
was alt sei an den Geschichten, neu, das Neue alt erscheinen zu
lassen, ist recht unglücklich gewählt.
Das sind theoretische Einwände, die die Lektüre zum größeren
Teil sehr bald zerstört: Wer genau zusieht, mag an einigen Stellen
des zweiten, etwas schwächeren Bandes finden, daß der erste Satz
leicht prägnanter ist, als die Novelle, die darauf folgt, daß die Um-
formung und Ausformung zur Prosanovelle in der ersten Zeile
also weiter geht als späterhin, was die Schwäche des Systems auf-
deckt. Wortweis meint man dort, in einer Breite wohl noch die
alte Verfassung durchzuspüren, anderwärts wieder eine — ur-
sprünglich vielleicht unförmige — Breite allzu streng zusammen-
gezogen zu sehen; im Ganzen ist die Arbeit außerordentlich gelungen:
Man hat, was das erste, überhaupt das grundlegende Erfordernis
ist, wirklich den Eindruck, altes Sprachmaterial vor sich zu haben,
was doch nur von der Kraft und Fülle der Sprache kommen kann,
denn in allem Äußeren richtet sich die Schreibweise nach der unseren;'
lesend wird man also zu den alten Sprachquellen zurückgeführt,
ohne irgendwie ins Historizistische zu verfallen. Man hat sogar den
Eindruck, echte alte Prosa zu lesen; und weiter dann den, zu einer
klassischen Periode deutscher Dichtung wieder eine Pforte gefunden
zu haben, von der unerklärlich ist, wie man sie verlieren konnte:
Die deutsche Novelle unterscheidet sich von der romanischen
insofern, als sie derber und handfester sowohl darin ist, wie sie
das einzelne Ding beim Namen nennt, als darin, wie sie die ganze
Geschichte anpackt. Die romanische Novelle ist schon in ihren frühsten
Anfängen wenn nicht ein bewußtes Kunstprodukt, so doch das
Produkt eines Volkes, das auf Form zu achten gewohnt ist: Die
Sprache ist elegant, in der französischen sogar gleichsam galant, stets
ist die ausgesprochene Freude des Erzählers zu spüren, sich aus-
drücken zu können, und manchmal läßt er eine längere Rede über-
mütig gleichsam wie einen Wimpel im Winde wehen, um nur alle
seine Fähigkeiten zu beweisen. Demgegenüber ist die deutsche
Novelle schlicht und einfach; der kürzeste Ausdruck ist ihr der liebste
und von dem bewußten Trieb, für gewisse Dinge scherzhafte Um-
schreibungen zu finden, ist nichts zu merken; die glatte Geschwätzig-
keit, die man der altitalienischen Novelle manchmal nachsagen kann,
fehlt hier ganz; dafür ist die Sprache sichtlich kräftiger, umfänglicher.
Und das grundlegende Motiv ist durchaus mit derselben Klarheit
herausgearbeitet, wie in der italienischen, so daß sie der künstlerisch
keineswegs nachsteht: Die kleineren Formen, die an die Sage, die
Legende, die Anekdote grenzen, haben vielfach ein deutliches Bild-
symbol im Mittelpunkt, die größeren benutzen als wichtigstes
Kompositionsmittel den Parallelismus und man findet geradezu
Wunder an Kompositionskunst darunter.
Die Stoffe sind ungefähr die selben, wie die der romanischen
Novelle, sie zerfallen also in der Hauptsache in Liebesnovellen,
Ehenovellen, Mönchsabenteuer, fromme Geschichten; manche
variieren berühmte Stoffe der Weltliteratur in ihrer Weise, so
findet man eigene Fassungen des Lear-, des Genovenstoffes und
der Geschichte von der Widerspenstigen Zähmung. Die Ehe-
geschichten zeugen ganz offenbar von einer persönlichen, mehr
germanisch-deutschen Erfassung des Eheproblems: Künstlerisch aus-
gezeichnet ist die Geschichte von dem Bauern, der seine Frau zum
Teufel wünscht und gerade in ihr schließlich endlich ein Weib ge-
funden zu haben glaubt, so daß er sich bei ihr verliegt, eine schlaue
Alte hat nämlich die Frau scheinbar begraben lassen, in Wahrheit
zu sich genommen und in jeder Hinsicht gepflegt, bis sie aller Un-
bilden vergessend schön geworden ist. Von großartigem Humor ist
die kaum drei Seiten umfassende Redeschlacht zwischen „Weib und
Mann", wo er beginnt, er wolle sie in einem Jahr verlassen, werde in
16 Wochen nicht mehr bei ihr sein, schon in acht Wochen das Weite
suchen, und so bis auf die Zahl eins zurückgeht, worauf sie repliziert,
freilich mit eins beginnt, und umgekehrt bis zur Unendlichkeit fort-
schreitet, daß sie ihn nicht läßt; es geht'so aus, daß sie sich vertragen,
gehen und singen „mitsammen ein Lied in einer hohen Weise".

Wie hinter den Streitigkeiten des kleinen Tages hier die pro-
blematische Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Ewigkeit in
allen seinen Beziehungen auftaucht, klingt ein Ton von transzenden-
taler Größe auf, der in der romanischen Novellenliteratur kaum zu
finden ist. Und am schönsten sind die deutschen Novellen eben doch
da, wo sie als echte Poesie über das Reale hinausgehend in der
Phantasie, dem Visionären und Märchenhaften leben: Wenn die
Mutter Gottes einem jungen Mönch jedes Vaterunser mit einem
Kuß als eine Rose vom Munde pflückt, aus denen sie einen Kranz
flicht; wenn ein Gespenst, durch den Edelmut eines Ritters erlöst,
zum Himmel auffährt — „Ich habe keinen Körper", sagte der ge-
spenstische Ritter, „und lebe in der Gnade Gottes". Damit fuhr er
als ein strahlender Engel auf zum Himmel — wenn in der herrlichen
„Crescentia" Petrus als Retter auf den Wolken erscheint, sind wir
am Quell der eigentlichen Dichtung. Dann müssen wir uns ein-
gestehen, daß wir Kinder des Zeitalters impressionistischer Wclt-
wiedergabe nicht nur schwächcr an kompositionellen Fähigkeiten
sind als unsere Vorfahren, sondern auch ärmer an Kraft, Rein-
heit und Gläubigkeit der Seele. Joachim Benn.
Aimo, der große beständige Diener.*
Die Stunde ist mir noch gegenwärtig, in der ich Peter Hille
staunend über einer kleinen Erzählung sah, die von dem blutjungen
und damals noch unbekannten Dichter Alfons Paquet in den
„Rheinlanden" stand (Dezemberhest 1901). Sie trug den merk-
würdigen Titel „Wir erwarten das Vlissinger Boot" und spielte
an der Küste von England; eine Novelle war sie kaum, sie gab
sich als Bericht eines Erlebnisses, das augenscheinlich nach dem
Leben wiedergegeben war: aber auch dieses Erlebnis interessierte den
Dichter Peter Hille nicht so sehr wie der junge Mensch, der es erlebt
und geschrieben hatte. Er sah da staunend eine Generation heran-
wachsen von einer neuen Weltbürgerschaft; nicht wie die um 1800
aus der Idee über lokale und nationale Grenzen strebend, sondern
eine, die gleichsam direkt aus der Welt geboren keinen Jdeenauf-
wand zu treiben brauchte, um überall auf der Erde zu Hause zu sein.
Es ist bekannt, wie Alfons Paquet aus dieser Weltbürgerschaft
zu seinem „Auf Erden" und dem „Held Namenlos" kam und in
die deutsche Dichtung einen Atem brachte, wie er bis dahin nur
in den Gesängen des Amerikaners Whitman und des Vlamen
Derhaeren wehte: Bücher, die man viel eher Gesang- als Gedicht-
bücher nennen könnte, so breit rauscht in ihren Gesängen die neue
Weltempfindung. In seinem neuen Buch aber ist endlich der
rauschende Strom in einem tiefen See zur Ruhe gekommen.
Unleugbar ist dieses dramatische Gedicht aus dem Lebens-
gefühl der östlichen Völker geschrieben, der erste Eindruck könnte
eine Übersetzung aus dem Chinesischen vermuten, aus jener ver-
geisterten Welt, in der die schönen Liebesgeschichten entstanden,
von denen neulich hier die Rede war. Aber etwas anderes ist
es, solche Dinge als wirkungsvolle literarische Grundlage zu be-
nutzen, oder ihnen in der eigenen Weltanschauung verwandt zu
sein. Und eine tiefe Verwandtschaft liegt hier vor. Man könnte
sagen: der junge erwachte europäische Weltgeist fände im Osten
seine alte Heimat wieder.
Technisch ist es wirklich ein dramatisches Gedicht, kein Drama
im Theatersinn. Das will nicht sagen, daß es nicht aufzuführen
wäre; man spürt aus jeder Szene, wie sie der Bühne hoffnungs-
voll wartet in der wechselreichen Fülle der Bilder: aber Bild und
Szene tragen eine wundervolle Sprachdichtung, deren Verse wie
alles wahrhafte dramatische Werk nach einer Schaubühne, nicht
nach den Brettern verlangen. Ein Mysterium, das durch Rein-
hardt lebendig werden könnte.
Ich möchte Peter Hille nun wieder staunen sehen, wenn er
das Wunderspiel vom großen beständigen Diener läse, wie aus der
Weltbürgerschaft der jungen Generation in diesem Dichter doch
wieder ein Stück von ihm selbst Körper erhalten hat: nur, daß sie
sicherer zwischen Himmel und Erde zu Hause ist als er, dessen
Füße sich aus der Heimat gelöst hatten, um sie landfahrend zu
suchen. Peter Hille aber, der gütige milde Freund aller großen
Gedanken, Gefühle und Taten, ist tot; wo werden die Augen sein,
den weit geworfenen Bogen dieser schönen Dichtung zu über-
blicken? W. Schäfer.

* Alfons Paquet: Limo, der große beständige Diener, ein
dramatisches Gedicht. (Verlag Rütten L Loening, Frankfurt a. M.)

Verantwortlich: Wilhelm Schäfer. — Druck und Verlag: A. Bagel, Düsseldorf. — Kunstdruckpapier: I. W. Zanders, B.-Gladbach.
Alle redaktionellen Sendungen sind an den Herausgeber Wilhelm Schäfer in Vallendar a. Nh. erbeten.
Für unverlangte Manuskripte und Rezensionsexemplare wird keine Verpflichtung übernommen. Rückporto ist beizulegen.
 
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