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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Hesse, Hermann: Das Landgut
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Benn, Joachim: Friedrich Huch.*
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0492

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Das Landgut.

vor dem weißen Fräulein und schämte mich elend, im
Hemd dazustehen.
,Mademoiselle, permetter . . .
Sie aber wurde blaß und wurde schmal und sank
mit einem überaus zarten Seufzer aus dem Stuhl zu-
sammen, und da ich die Hände nach ihr ausstreckte, griff
ich eine große, stark duftende Narzisse. Erschreckend
und traurig stellte ich die weiße Blume zu den andern
ins hohe Zierglas und kehrte beklommen in mein ver-
lassenes Bett zurück.
Als ich des Morgens vor dem Abschiednehmen das
Klavierzimmer nochmals aufsuchte, war alles wie am
vergangenen Abend und wie es immer gewesen war.
Nur ein altes Männerbildnis an der Wand schien mir
auffallend rachsüchtig zu blicken, was ich früher nie
beobachtet hatte.
Der Wagen war angespannt und ich fuhr in Be-
gleitung des Hausherrn nach der Stadt zurück. Der
gastfreundliche Herr war heute ziemlich verschlossen und
sah mich unangenehm und fragend an.
„Es ist vielleicht besser," sagte er plötzlich, „wenn
Sie uns hier draußen nicht mehr besuchen."
Ich war sprachlos.
„Ja weshalb denn?" rief ich heftig.
„Ich habe gesehen, was Sie heute nacht getan
haben."
„Und nun?"
„Jener Herr war mein Großvater. Sie wußten es
vermutlich nicht, aber einerlei . . ."
Ich begann mich zu entschuldigen, aber er rief dem
Kutscher zu, schneller zu fahren, winkte abwehrend gegen
mich und lehnte sich tief im Sitz zurück, ohne sich mehr
auf ein Gespräch einzulassen.
Da ließ ich den Kutscher hatten, zog stumm den Hut
und stieg aus, um vollends zu Fuß in die Stadt zurück-
zukehren.
riedrich Huch."
Es gibt Menschen, bei denen zwischen der ersten
Regung ihres Willens, dem eigentlichen Willens-
entschluß und der Verwirklichung dieses Willens nicht
Pause und nicht Anstrengung ist, es sei denn die, die in
der Sache selber liege; ihr Wunschleben setzt sich un-
mittelbar und ohne Hemmungen und Verwicklungen in
Handlungen um, und die Selbstverständlichkeit, mit der
ihre Triebe zu Taten werden, läßt sie in sich immer weiter
erstarken. Daneben gibt es Menschen, deren Willens-
leben weniger glatt verläuft: Ihre Wünsche stehen immer
wie Berge vor ihnen, die sie erklimmen müssen; ihr vor-
gesetztes Ziel zu erreichen bedarf es stets neuer, stets
qualvollerer Anstrengungen, aber oft erreichen sie es nie
und sind immer von unerfüllten Wünschen umgeben wie
von Gespenstern, die ihnen Kraft absaugen. — Von der
Seite der Willensstärken, der Tatkräftigen her gesehen,
die in undurchbrechbarem Kreis von Wunsch zu Aus-
* Von Friedrich Huchs Büchern sind die „Geschwister",
„Wandlungen", „Mao" bei S. Fischer, Berlin, „Pitt und Fox"
in einer billigen Ausgabe zu Mk. 1,80 und zu Mk. 3,— bei
Langewiesche - Brand, München, „Peter Michel" und die drei
grotesken Komödien bei Möricke in München erschienen.

führung und von neu sich ergebendem Wunsch zu neuer
Ausführung schreiten, sind diese Menschen Träumer,
Problematiker, deren Lebensselbstverständlichkeit durch-
brochen ist; insofern sie etwas wollen, das ihnen nicht
gelingt, stehen sie auch notwendig vor sich selber arm-
selig und als Entartete da, Schlehmile, die trotz aller
Kämpfe zu keinem Schatten kommen. Dafür können
diese Menschen so vergeistigt, Bildnis reinsten Menschen-
tums, und also bloße Seele entkleidet aller Körperlich-
keit sein, daß sie, zart wie Blumen, in das Trieb- und
Willensleben der anderen wie mit einer magischen La-
terne hin ein schein en. Es ist wohl, als ob solche Menschen
einer anderen Welt entstammten, die nicht so wie unsere
auf äußere Erfüllung, sondern auf das Leben rein im
Geiste gestellt sei; alles Willensleben wäre dann von
außen an sie herangetragen, und sie verzehrten sich nun
in Wünschen, die garnicht ihrem Wesen entsprechen.
Wenn es einmal eine Wett gegeben hat, in der dieser
Mensch zuhause war, so ist das Alt-Indien gewesen;
denn dort hat es ein philosophisch-religiöses System ge-
geben, das diesen Menschen als menschliches Ideal auf-
stellte. Die Verbindung der Germanen mit den Indern
ist nicht sehr klar, aber es ist sicher, daß die Neigung zu
einem Leben rein im Traum und in Gedanken tief im
Wesen der Deutschen und überhaupt der Völker liegt,
die den Norden Europas besetzt haben. In Deutschland
gehören der dumme Hans und der tölpelhafte Michel,
die reinen Herzens mit dem äußeren Leben nicht fertig
werden, zu den ältesten Figuren der Dichtung; wenn sie
schon ein wenig komisch genommen werden, so sind sie
doch noch von tiefster Poesie umwittert, und die Liebe,
die der Deutsche für sie hat, hat viel von der Liebe zu
einer längst verlassenen, fast vergessenen Heimat. — In
dem Maße, als mit dem Beginn der Neuzeit die Willens-
kraft die entscheidende Eigenschaft des europäischen
Menschen wurde, mußte der Träumer und Sinnierer
den Menschen der neuen Zeit, die vielfach rassensfremde
Zuwanderer waren, sonderbar, ja problematisch er-
scheinen. Der Ahnherr der zahllosen Problematiker der
europäischen Dichtung, in der sich diese Entwicklung
spiegelt, wurde Hamlet, der Dänenprinz, dessen Handeln
sich an seinem Denken brach und lange als Symbol
gerade für das Deutsche Reich galt. An ihn schließt sich in
Deutschland als erste Gruppe die der romantischen Proble-
matiker an; dem spekulativen Wesen der romantischen
Psychologie entsprechend wird dabei in Tiecks „blondem
Ekbert" die Lebenstauglichkeit des träumerischen Helden
dadurch symbolisiert, daß er seine eigene Schwester liebt,
nicht also eine fremde Wett zur Ergänzung heranzieht,
sondern in die eigene Welt zurücktaucht. Die zweite
Gruppe der deutschen Problematiker ist die der modernen
Mißgeschickten und Neurastheniker; auch hier wird die
Unfähigkeit, inneres Wollen in Tat umzusetzen, als reiner
Mangel angenommen, aber nun auch rein physiologisch
mit körperlicher Degenerierung erklärt und vielfach nicht
mehr symbolisch dargestellt, sondern — bei Thomas
Mann etwa — mit der Ausmalung der einzelnen Krank-
heitszustände, womit die Dichtung zur Rivalin der me-
dizinischen Psychologie wurde.
Es macht die besondere Stellung des Dichters
Friedrich Huch aus, der vor einigen Monaten vorzeitig


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