Richard Wagners Tristan.
Sie fühlen nicht mehr Du und Ich, sind es aber
noch; die Charaktere bleiben; das principiuin inäi-
viänntionis besteht tatsächlich, solang sie auf Erden leben.
Doch daß es ohne Feindschaft, ohne Rivalität besteht,
das eben macht den zweiten und dritten Akt so völlig
anders als den ersten, der von ungelösten Kräften, von
stummem Druck durchglüht ist. Die Gegensätze entbehren
in ihm der Klarheit, sind noch nicht auseinandergestellt,
nicht gestaltet. Vorerst sprudeln da Quellen, ungeleitet,
ohne Flußbett, sich mischend und trübend, ihre Kraft
gegenseitig hemmend. Ein Strom bildet sich endlich,
Tristans und Isoldes Liebesschicksal — ihr eigentliches
und einziges Schicksal; ein Strom, der schweres Geröll
von der Tiefe mit sich führt, aus der er aufstieg, und selbst
Wasser fremder Art; der männliche der beiden Flüsse,
die zu dem einen Strom werden, brachte sie diesem zu,
und die fremde Eigenschaft, der störende Wellentrieb
und Richtungswille verursacht wildes Brausen, Tosen
und Schäumen, eine Wut von Flutengang.
Da ist eine Welt, die Anspruch auf Tristan und Isolde
erhebt, und an deren Glück jedes von ihnen natürlicher-
weise teilhaben will. Isolde, die wahrhaftigere und ent-
schlossenere, verwirft jene, der Tristan noch huldigt
und von der er sich huldigen läßt; er schätzt, was sie zu
vergeben, wahrt sich, was sie ihm bereits zum Geschenk
gemacht hat. Weniger wahrhaft, auch langsamer,
legt er den größeren Weg zurück, da er am Ende aktiv
wahrhaftiger wird als Isolde. Das größte Hemmnis
des Schicksals geht von ihm aus, der, mehr in die Welt
verstrickt, noch anderes erstrebenswert oder Glück nennt,
als was sie ihm versagt. Isoldes Entweder-Oder wirkt
dagegen gewaltig, elementar, reiner, ob Such beschränkter
eigensüchtig. Tristans Stolz bezieht Kraft von der Welt
d^pollo und Diana".
war, erinnere ich mich, bei der Aktienbrauerei in Thun
tätig. Vor ungefähr zehn Jahren war's, und ich hatte das Glück,
in einem schönen, geräumigen alten Haus dicht neben dem herr-
lichen Schloß auf dem Schloßhügel wohnen zu dürfen. Ich trank
viel Bier, wozu mich schon meine bierbrauerliche Beschäftigung
verleitete, badete in der reißenden Aare, ging öfter in die Ebene,
die sich um Thun ausbreitet, spazieren und staunte zu den Kolossen
empor, zu den Bergen, die, ungeheuerlichen Burgen ähnlich, dort
in den Himmel hinaufragen. Eines Tages hatte ich mit meiner
Wirtin, der Frau Amtschreiber, ein kleines reizendes Erlebnis,
und zwar wegen einem Bild, das an der Wand meines Zimmers
hing. Dieses Zimmer, es war die Wohnlichkeit, Traulichkeit und
Heimeligkeit selber. Ich vergesse nie diesen saftgrün angehauchten
bildhübschen Raum, ich vergesse aber auch die Sonnenstrahlen nie,
die dort so goldig und zugleich so listig ins versteckte Zimmer hinein-
lächelten. Nun aber zur Frau Amtschreiber. Sie nahm mir das
Bild, eine Photographie des Gemäldes „Apollo und Diana"
von Kranach (das Original hängt im Kaiser-Friedrich-Museum zu
Berlin), von der Wand, an welcher es zu meiner Belustigung und
Erquickung hing, weg und legte es, schamhaft und vorwurfsvoll
umgekehrt, auf meinen Tisch. Ich kam heim und merkte sogleich
mit meinen beiden stets aufmerksamen Augen das Werk der falschen
Sittlichkeitsbegriffe, und rasch entschlossen ergriff ich die allezeit
dienstfertige Feder und schrieb folgendes keckes Bittet: „Verehrte
Frau, hat Ihnen das Bild, das mir lieb ist, weil es ganz aus lauterer
Schönheit besteht, vielleicht etwas zuleid getan, daß Sie es von
der Wand gemeint haben wegnehmen zu sollen? Finden Sie, daß
das Bild häßlich ist? Sind Sie der Meinung, daß es ein unan-
ständiges Bild ist? Dann bitte ich ergebenst, es einfach keines Blickes
zu würdigen. Mir aber wollen verehrte Frau in der Güte, in deren
Besitz ich dieselbe glaube, gestatten, das Bild wieder dorthin zu
her, die Vorstellung des eigenen Bilds in der Welt
hält ihn zurück, hält ihn aufrecht, macht ihn stark, aber
zugleich steif und starr. Ihn loszureißen, der widerwillig
folgt, gelingt Isolden nur durch ein Doppeltes, das sie
zu vereinigen weiß: ihm den verderblichen Trank zur
Sühne bietend, faßt sie ihn an seiner Sitte und lockt
ihn durch die Hoffnung auf das erwünschte Ende, das
so mit männlicher Geste zu finden ihm angeboten wird.
Da geschieht denn der große Riß in ihm, das ist die
Peripetie seiner Seele; der Liebestrank, weniger Faktor
als Katalysator, räumt nur die letzte Hemmung weg;
ja, er ist sogar mehr noch Symbol und Sichtbarkeit
der Zäsur im inneren Geschehen.
Von dem Augenblick an, wo Tristan den Becher
nehmen will, versank die Welt, das Reich des vielen
Quellens; der See, der die Lebensströme entsendet,
brandet verworrenen Lauts in der Tiefe, und der ge-
einte Strom bricht sich eine Bahn durch Gestein und Erde
in eine Höhe hinauf, wo es einsam um ihn ist; bisher
hatte er Genossen, wenn auch kleine, arme im Vergleich
zu ihm; er allein aber hatte Drang und Zwang zur Höhe.
Morold war einer von den kleinen Genossen, Marke
und sein Volk ein anderer. „Welcher König?" fragt
Tristan nun, für den Marke doch stets der König ge-
wesen war. Die Formel: „Das kann ich dir nicht sagen":
auch der treue Kurvenal muß sie endlich hören; auch er
wird zuletzt in die Welt verwiesen, von der Tristan und
Isolde Abschied genommen, der sie nichts mehr zu
„sagen", für die sie keine verständlichen Worte mehr
haben. Sie sind in ferner Höhe angelangt, sind Bild
geworden, reden nur von weitem und nur durch dieses
ihr Bild zur Welt: der Mythus Tristan und Isolde
ist entstanden. A. Halm.
tun, wo es gewesen ist. Ich werde es sogleich wieder an die Wand
anheften und bin überzeugt, daß niemand es mir nochmals fort-
nimmt." Frau Amtschreiber las und nahm das Billet. Ich Schurke!
Einer so liebenswürdigen Frau so harte Worte zu sagen. Doch die
paar Worte, was hatten sie nicht für eine schöne Wirkung. Wie
lieb war Frau Amtschreiber von nun an zu mir. Reizend, reizend
benahm sie sich. Sogar meine zerrissenen Hosen erbat sie sich,
damit sie sie flicke, sie, die Frau Amtschreiber. Robert Walser.
neue Neue in Müncken.
Als ich seinerzeit über die Neugestaltung der Alten
Pinakothek durch Tschudi hier berichtete, berührte ich auch die
Frage, die sich jedem unwillkürlich aufdrängte: wie der Mann
wohl das viel schwierigere Problem der „Neuen" angreifen und
lösen werde. Der Tod hat ihn dieser Prüfung enthoben; aber
würde er noch leben, so glaube ich kaum, daß er uns heute schon
die Erfüllung gebracht hätte, ich fürchte, er wäre daran verzweifelt,
hier Befriedigendes zu erreichen, die Schwierigkeiten erschienen
seinem Empfinden gewiß beträchtlich größer als dem Gefühl
anderer — die jetzt den Mut gefunden haben, sich mit dem Augias-
stall tätlich einzulassen. In seinem Sinn heißt es, ich glaube es
gern; aber mit welchem Resultat? Man kann zugeben: mit dem
möglichst besten. Aber eben die Möglichkeiten waren allzueng be-
grenzt, einmal durch den Bestand der Sammlung, dann durch die
verfügbaren Räume. Über die Nützlichkeit dieser ist kein Wort
weiter zu sagen, alles ist sich darüber einig; nur daß die Übelstände
in der neuen Ordnung noch greller zutage treten. Ein Umbau
oder Neubau wäre also das erste Erfordernis einer wirklich durch-
greifenden Neugestaltung dieses Instituts, das dem großen in
München ein- und ausgehenden Weltpublikum, soweit es in Kunst-
sachen in Frage kommt, eine Lächerlichkeit und ein Gespött ist,
seit einem halben Jahrhundert.
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Sie fühlen nicht mehr Du und Ich, sind es aber
noch; die Charaktere bleiben; das principiuin inäi-
viänntionis besteht tatsächlich, solang sie auf Erden leben.
Doch daß es ohne Feindschaft, ohne Rivalität besteht,
das eben macht den zweiten und dritten Akt so völlig
anders als den ersten, der von ungelösten Kräften, von
stummem Druck durchglüht ist. Die Gegensätze entbehren
in ihm der Klarheit, sind noch nicht auseinandergestellt,
nicht gestaltet. Vorerst sprudeln da Quellen, ungeleitet,
ohne Flußbett, sich mischend und trübend, ihre Kraft
gegenseitig hemmend. Ein Strom bildet sich endlich,
Tristans und Isoldes Liebesschicksal — ihr eigentliches
und einziges Schicksal; ein Strom, der schweres Geröll
von der Tiefe mit sich führt, aus der er aufstieg, und selbst
Wasser fremder Art; der männliche der beiden Flüsse,
die zu dem einen Strom werden, brachte sie diesem zu,
und die fremde Eigenschaft, der störende Wellentrieb
und Richtungswille verursacht wildes Brausen, Tosen
und Schäumen, eine Wut von Flutengang.
Da ist eine Welt, die Anspruch auf Tristan und Isolde
erhebt, und an deren Glück jedes von ihnen natürlicher-
weise teilhaben will. Isolde, die wahrhaftigere und ent-
schlossenere, verwirft jene, der Tristan noch huldigt
und von der er sich huldigen läßt; er schätzt, was sie zu
vergeben, wahrt sich, was sie ihm bereits zum Geschenk
gemacht hat. Weniger wahrhaft, auch langsamer,
legt er den größeren Weg zurück, da er am Ende aktiv
wahrhaftiger wird als Isolde. Das größte Hemmnis
des Schicksals geht von ihm aus, der, mehr in die Welt
verstrickt, noch anderes erstrebenswert oder Glück nennt,
als was sie ihm versagt. Isoldes Entweder-Oder wirkt
dagegen gewaltig, elementar, reiner, ob Such beschränkter
eigensüchtig. Tristans Stolz bezieht Kraft von der Welt
d^pollo und Diana".
war, erinnere ich mich, bei der Aktienbrauerei in Thun
tätig. Vor ungefähr zehn Jahren war's, und ich hatte das Glück,
in einem schönen, geräumigen alten Haus dicht neben dem herr-
lichen Schloß auf dem Schloßhügel wohnen zu dürfen. Ich trank
viel Bier, wozu mich schon meine bierbrauerliche Beschäftigung
verleitete, badete in der reißenden Aare, ging öfter in die Ebene,
die sich um Thun ausbreitet, spazieren und staunte zu den Kolossen
empor, zu den Bergen, die, ungeheuerlichen Burgen ähnlich, dort
in den Himmel hinaufragen. Eines Tages hatte ich mit meiner
Wirtin, der Frau Amtschreiber, ein kleines reizendes Erlebnis,
und zwar wegen einem Bild, das an der Wand meines Zimmers
hing. Dieses Zimmer, es war die Wohnlichkeit, Traulichkeit und
Heimeligkeit selber. Ich vergesse nie diesen saftgrün angehauchten
bildhübschen Raum, ich vergesse aber auch die Sonnenstrahlen nie,
die dort so goldig und zugleich so listig ins versteckte Zimmer hinein-
lächelten. Nun aber zur Frau Amtschreiber. Sie nahm mir das
Bild, eine Photographie des Gemäldes „Apollo und Diana"
von Kranach (das Original hängt im Kaiser-Friedrich-Museum zu
Berlin), von der Wand, an welcher es zu meiner Belustigung und
Erquickung hing, weg und legte es, schamhaft und vorwurfsvoll
umgekehrt, auf meinen Tisch. Ich kam heim und merkte sogleich
mit meinen beiden stets aufmerksamen Augen das Werk der falschen
Sittlichkeitsbegriffe, und rasch entschlossen ergriff ich die allezeit
dienstfertige Feder und schrieb folgendes keckes Bittet: „Verehrte
Frau, hat Ihnen das Bild, das mir lieb ist, weil es ganz aus lauterer
Schönheit besteht, vielleicht etwas zuleid getan, daß Sie es von
der Wand gemeint haben wegnehmen zu sollen? Finden Sie, daß
das Bild häßlich ist? Sind Sie der Meinung, daß es ein unan-
ständiges Bild ist? Dann bitte ich ergebenst, es einfach keines Blickes
zu würdigen. Mir aber wollen verehrte Frau in der Güte, in deren
Besitz ich dieselbe glaube, gestatten, das Bild wieder dorthin zu
her, die Vorstellung des eigenen Bilds in der Welt
hält ihn zurück, hält ihn aufrecht, macht ihn stark, aber
zugleich steif und starr. Ihn loszureißen, der widerwillig
folgt, gelingt Isolden nur durch ein Doppeltes, das sie
zu vereinigen weiß: ihm den verderblichen Trank zur
Sühne bietend, faßt sie ihn an seiner Sitte und lockt
ihn durch die Hoffnung auf das erwünschte Ende, das
so mit männlicher Geste zu finden ihm angeboten wird.
Da geschieht denn der große Riß in ihm, das ist die
Peripetie seiner Seele; der Liebestrank, weniger Faktor
als Katalysator, räumt nur die letzte Hemmung weg;
ja, er ist sogar mehr noch Symbol und Sichtbarkeit
der Zäsur im inneren Geschehen.
Von dem Augenblick an, wo Tristan den Becher
nehmen will, versank die Welt, das Reich des vielen
Quellens; der See, der die Lebensströme entsendet,
brandet verworrenen Lauts in der Tiefe, und der ge-
einte Strom bricht sich eine Bahn durch Gestein und Erde
in eine Höhe hinauf, wo es einsam um ihn ist; bisher
hatte er Genossen, wenn auch kleine, arme im Vergleich
zu ihm; er allein aber hatte Drang und Zwang zur Höhe.
Morold war einer von den kleinen Genossen, Marke
und sein Volk ein anderer. „Welcher König?" fragt
Tristan nun, für den Marke doch stets der König ge-
wesen war. Die Formel: „Das kann ich dir nicht sagen":
auch der treue Kurvenal muß sie endlich hören; auch er
wird zuletzt in die Welt verwiesen, von der Tristan und
Isolde Abschied genommen, der sie nichts mehr zu
„sagen", für die sie keine verständlichen Worte mehr
haben. Sie sind in ferner Höhe angelangt, sind Bild
geworden, reden nur von weitem und nur durch dieses
ihr Bild zur Welt: der Mythus Tristan und Isolde
ist entstanden. A. Halm.
tun, wo es gewesen ist. Ich werde es sogleich wieder an die Wand
anheften und bin überzeugt, daß niemand es mir nochmals fort-
nimmt." Frau Amtschreiber las und nahm das Billet. Ich Schurke!
Einer so liebenswürdigen Frau so harte Worte zu sagen. Doch die
paar Worte, was hatten sie nicht für eine schöne Wirkung. Wie
lieb war Frau Amtschreiber von nun an zu mir. Reizend, reizend
benahm sie sich. Sogar meine zerrissenen Hosen erbat sie sich,
damit sie sie flicke, sie, die Frau Amtschreiber. Robert Walser.
neue Neue in Müncken.
Als ich seinerzeit über die Neugestaltung der Alten
Pinakothek durch Tschudi hier berichtete, berührte ich auch die
Frage, die sich jedem unwillkürlich aufdrängte: wie der Mann
wohl das viel schwierigere Problem der „Neuen" angreifen und
lösen werde. Der Tod hat ihn dieser Prüfung enthoben; aber
würde er noch leben, so glaube ich kaum, daß er uns heute schon
die Erfüllung gebracht hätte, ich fürchte, er wäre daran verzweifelt,
hier Befriedigendes zu erreichen, die Schwierigkeiten erschienen
seinem Empfinden gewiß beträchtlich größer als dem Gefühl
anderer — die jetzt den Mut gefunden haben, sich mit dem Augias-
stall tätlich einzulassen. In seinem Sinn heißt es, ich glaube es
gern; aber mit welchem Resultat? Man kann zugeben: mit dem
möglichst besten. Aber eben die Möglichkeiten waren allzueng be-
grenzt, einmal durch den Bestand der Sammlung, dann durch die
verfügbaren Räume. Über die Nützlichkeit dieser ist kein Wort
weiter zu sagen, alles ist sich darüber einig; nur daß die Übelstände
in der neuen Ordnung noch greller zutage treten. Ein Umbau
oder Neubau wäre also das erste Erfordernis einer wirklich durch-
greifenden Neugestaltung dieses Instituts, das dem großen in
München ein- und ausgehenden Weltpublikum, soweit es in Kunst-
sachen in Frage kommt, eine Lächerlichkeit und ein Gespött ist,
seit einem halben Jahrhundert.
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