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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Walser, Robert: Der Kuß
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Benn, Joachim: Mörikes Briefe
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Schäfer, Wilhelm: Johann Peter Hebel
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Benn, Joachim: Altdeutsche Novellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0171

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Kuß.
Was habe ich Merkwürdiges geträumt? Was widerfuhr
mir? Welch eine seltsame Heimsuchung ist gestern nacht, als ich
im Schlafe dalag, urplötzlich, wie aus einem hohen Himmel herab,
dem fürchterlichen Blitz ähnlich, über mich gekommen? Ahnungslos
und willenlos und gänzlich bewußtlos, der Sklave des Schlafes,
der mich fesselte und mich in seinen Kerker schloß, lag ich da, ohne
Wehr und ohne Waffen, ohne Voraussetzung und ohne Verant-
wortung (denn im Schlaf ist man unverantwortlich), als das Herr-
liche und Schreckliche, das Große und Süße, das Liebe und Furcht-
bare, das Entzückende und Entsetzliche über mich herfuhr, als wolle
es mich mit seinem Druck und Kuß ersticken. Der Schlaf hat innere
Augen, und so muß ich denn gestehen, daß ich mit einer Art von
zweiten und anderen Augen dasjenige sah, was auf mich zustürzte.
Ich sah es, wie es mit Windes- und Blitzesgeschwindigkeit, den
unendlichen Raum zerschneidend, aus der unermeßlichen, giganten-
artigen Höhe herabschoß auf meinen Mund. Ich sahs und ich war
entsetzt, und ich war doch nicht imstande, mich zu bewegen und mich
zu wehren. Auch hörte ich sein Nahen. Ich hörte es. Ich sah und
hörte den niegesehenen, nieerlebten Kuß, der mit Worten nicht
zu beschreiben ist, ganz wie mit Worten, die die Sprache enthält,
nicht das Grausen und das Freuen zu beschreiben ist, welches mich
schüttelte. Der Kuß in Träumen hat nichts gemein mit dem zarten,
sanften, beidseitig gewollten und gewünschten Kuß in der Wirklich-
keit. Es war nicht ein Mund, der mich küßte, nein, es war ein Kuß
in der Alleinigkeit und Einzigkeit. Cs war ein Kuß, der völlig und
einzig nur Kuß war und weiter nichts. Etwas Unabhängiges,
Seelenähnliches, Gespenstisches wars, und als ich getroffen worden
war von dem Verständlichen und wieder höchst Unverständlichen,
zerfloß ich auch schon in solchen gliederdurchstürmenden, ich möchte
sagen, grandiosen Wonnen, wie ich mir verbiete, es näher zu sagen.
Ah, das war ein Kuß, ein Kuß, das! Der Schmerz, den er mir
bereitete, preßte mir einen Schrei des Jammers ab, und gleich-
zeitig mit dem Empfang des Kusses und mit seiner himmlischen und
höllischen Wirkung erwachte ich und vermochte mich lang nachher
noch immer nicht zu fassen. Was ist der Mann, der Mensch. Was
ist der Kuß, den ich freundlich gebe, am Hellen Tag oder bei
Mondschein, in der friedlich-glücklichen Liebesnacht, unter einem
Baum oder sonstwo, verglichen mit der Raserei des eingebildet-
aufgezwungenen Kusses, geküßt von den Dämonen.
Robert Walser.
HVl^örikes Briefe.
In Eduard Mörikes Briefen — Will Vesper hat sie. etzt
in einem schlichten, handlichen Bändchen der „Deutschen Bibliothek"
herausgegeben* — dichtet es in jeder Zeile. Es war die ursprüng-
lichste Lebensbetätigung dieses Mannes, was er nur mit seinen
Sinnen uni sich herum wahrnahm und mit seinen Empfindungen
umkleidete, sofort in Wort und Sätze umzusetzen: Sätze von jener
ihm so allein eigenen beabsichtigten Behäbigkeit, die entsteht,
wenn in den Hauptsatz, durch Kommas zugeteilt, ergänzender- nnd
füllenderweise allerlei nähere Bestimmungen zu den ursprüng-
lichen Feststellungen ausgenommen werden. Auf Eindrücke, die
in ihm besonders starke Empfindungen hervorriefen, antwortete
er mit einem dichterischen Bilde, einer Metapher, ohne daß er
dabei je in Manier oder Maßlosigkeit verfallen wäre, denn er war
ein Muster von Cchtwüchsigkeit und künstlerischer Unschuld.
Erstaunlich ist, wie eng der Kreis war, auf den sich seine
Empfindungen bezogen: Der Käse auf dem Tisch, der Stoff an
seinem Rock, die Geräte des Zimmers und ein menschliches Antlitz,
dazu dann das Landschaftliche, Baum und Blume, Wolke, Licht
und Sonne, ein Kirchturm, ein Gebirgszug der Ferne, das war
— mit einiger Übertreibung kann es gesagt werden — seine Welt.
Nichts vom Sozialen, im weitesten Sinne des Worts, der mensch-
lichen Gesellschaft; sein Kreis eine kleine Gruppe an sich nicht be-
deutender Personen, ein paar Freunde, an denen er mit liebender
Seele hing, die Schwester, die Freundin. In mancher Hinsicht
möchte man meinen, Mörike sei nie über das Kind hinausgekommen,
auch, er habe immer etwas von einer Frau gehabt, die einzig mit
dem Nächsten lebt. Dafür besaß er aber auch diese unvergleichliche,
fast frauenhafte, fast kindhafte Reinheit und Zartheit, mit der er die
Welt um sich aufnahm und die außer ihm nur noch Stifter eigen war.
Während dem die Fähigkeit zu epischer Breite in der Dar-
stellung der Welt geschenkt war, verfügte Mörike über die Fähig-
keit zu der strengen lyrischen Konzentration, wie sie die besten
* Verlag der Deutschen Bibliothek, Berlin.

seiner in sich so flaumhaft zarten Gedichte beweisen. Aber irgendwo
ward doch auch ihm die Gabe epischer Breite in der Erzählung
zuteil, und das ist eben in seinen Briefen. Es ist das Epos von den
Erlebnissen, besonders den sinnenhaften Erlebnissen eines Dichter-
gemütes, was sich da entrollt. Als solches hat es keine strenge
künstlerische Form, wie es sich da aus unzähligen kleinen Briefen
zusammensetzt, denn es stellt ein Leben dar, das kein menschlicher
Wille organisiert hat. Allein man spricht heute wohl davon, die
Kunst solle nicht aristokratisch neben dem Leben hergehen, um
Neues zu schaffen, sondern bedeutendes Leben selber dichten, zur
Sage machen: Diese Briefe machen aus dem Leben des großen
schwäbischen Dichters eine Sage, und da er selbst sie geschrieben
hat, gehören sie wirklich, wie der Herausgeber sagt, als eine nach-
gelassene Dichtung zu den anderen. Joachim Benn.
Johann Peter Hebel.
Schon wieder ist ein Anlaß da, an diesen vielverkannten
Meister der Epik zu erinnern: Der Tempel-Verlag hat nach Goethe,
Schiller, Kleist, Heine, UHIand und dem Nibelungenlied nun auch
Johann Peter Hebel seinen Klassikern eingereiht mit einer Ausgabe
seiner Poetischen Werke. Emil Strauß hat diese Ausgabe gemacht,
die außer den alemannischen Gedichten die erzählerischen Stücke des
Schatzkästleins und eine Auswahl der Briefe enthält. Zwischen den
Briefen, bescheiden eingeordnet in drei Stücken, steht eineBiographie
des Dichters, die freilich durchaus nicht mit Bescheidung gemacht ist,
sondern mit der redlichen Absicht, es dem köstlichen Kalendermann
gleichzutun mit einer Prosa, darin das Überflüssige ausgesiebt und
das Notwendige mit Bedacht und Schalkhaftigkeit gesagt wird.
Ich weiß, was ich sage, wenn ich den Anfang dieser knappen
Biographie selber ein Stück Epik und das Ganze ein Meisterwerk
deutscher Prosa nenne; so, ihr Herren Herausgeber, muß etwas
Derartiges gemacht sein, freilich, wie es nur ein Schriftsteller
von wirklicher Sprachbildung kann. Eine überaus sorgfältige
Auswahl entspricht dieser „Einführung", auch hat der Landsmann
Hebels sich die Mühe nicht verdrießen lassen, eine Worterklärung
besonders zu den „Alemannischen Gedichten" zu geben; das Ganze,
mit 530 Seiten in schönem Leinenband von der C. R. Weiß-Type
gedruckt, kostet 3 Mk. (in Halbleder 3.75 Mk.): ich denke, das genügt,
um uns Deutschen eine mustergültige Klassikerausgabe und zugleich
ein Volksbuch zu geben, das in jedem Haus sein muß, wo über-
haupt Bücher sind.
Bei der Gelegenheit sei gern ein allgemeines Wort über die
Tempelausgaben gesagt: ihr Grundsatz, zwischen Buchdeckel und
Buchdeckel nichts als den.Dichter zu geben, ist zwar bei diesem
Band durchbrochen, aber in einer solchen Ausnahme sieht man
gern die Regel bestätigt. Man kann als Herausgeber sorgfältig
sein, ohne sich mit Anerkennungen teptkritischer Art breit zu machen,
und was wirklich notwendig ist zu einer kritischen Ausgabe, läßt
sich bei gutem Willen und einiger Ehrfurcht vor dem klassischen
Werk und Wort schon anders anbringen (wo es nur ein Band ist,
unauffällig wie in diesem Hebelband; wo es mehrere sind, in
einem besonderen „Biographieband"). Es geht mit den Heraus-
gebern wie mit den Köchen, es schmeckt am besten, wenn man
sie nicht sieht und — riecht; die Tempelausgaben — darf man
wohl sagen — haben keinen Geruch aus der Philologenküche mehr
an sich: wer die Gerichte sauber angerichtet liebt, wird an dieser
Tafel lieber als an jeder andern essen. S.
Altdeutsche Novellen.
Altdeutsche Novellen in wohlüberlegter Auswahl in seine
Bücherei einordnen zu können, muß jeden Deutschen freuen,
zumal wir aus dem Insel-Verlag schon seit Jahren die doppel-
bändigen Ausgaben altitalienischer und altfranzösischer Novellen
besitzen, die wir heute nicht mehr missen mögen. Wenn wir mit
solcher Meinung nach den beiden schmucken Bänden greifen, die
Leo Greiner bei Erich Reich in Berlin herausgegeben hat,* wartet
unser im ersten Augenblick freilich so etwas wie eine Enttäuschung:
Das sind gar keine Novellen, wie sie einst wirklich ausgeschrieben
und weitererzählt wurden, sondern Übertragungen mittelhoch-
deutscher Verserzählungen; denn wir Deutschen haben ja das Un-
glück gehabt, daß sich unsere Sprache im Laufe der Zeit so stark
umgewandelt hat, daß wir'unsere eigenen frühen Denkmale über-
setzen müssen, außerdem bedienten sich unsere Vorfahren einer
* Altdeutsche Novellen. Nach dem Mittelhochdeutschen von
Leo Greiner. 2 Bände. Berlin, Erich Rein, Verlag.

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