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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Gassert, Paul: Idylle
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Benn, Joachim: Benno Rüttenauer
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Lissauer, Ernst: Die Untergangsstunde der "Titanic"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0461

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Dann kamen andere Satze in die Mode, und diese billigten den
Gasballon und erklärten ihn aufs trefflichste, daß er höher und
höher stieg.
Wieder werden die Sätze verbogen; und es ist der Geist des
Menschen, welcher in die Kräfte der Natur fährt wie einst der
Teufel in die Seelen. Dieser Geist warf den knatternden Aeroplan
in die Luft, daß er mit den Winden sich zanke und jede himm-
lische Bläue zersägt. Nun wandelt der gute runde Luftballon
durchs Gefild wie ein behäbiger alter Herr, der Sonntags seinen
obligaten Spazierweg macht und zur Freude aller irdischen Spazier-
gänger in der Sonne glitzert. Und träumerisch schwebt über der
buckligen Erde, als ob er von uns rein nichts wüßte und wir nicht
von ihm. Als ein fremdes seliges Ding — um endlich fern hinunter-
zutauchen in den ewigen Horizont, wie Sonne, Mond und Sterne,
die alle auch einmal Jungfern waren.
Ja, ein freundlicher alter Herr, der alle unveränderlichen
und unverbrüchlichen Regeln respektiert, Naturregeln und andere.
Daß selber ein Dorfpfarrer die Hand gegen ihn heben darf, wenn
er sanft gleitet mit der Kirchturmfahne wie die Rosenwölklein des
Morgens und die des Abends, und von ihm sagen: Er steht in
Gottes Hand und seine Winde sind es, die ihn dahin tragen!
enno Rüttenauer.
Wie sonderbar und schön zugleich ist es, daß diesem Manne,
der doch eigentlich schon über die Höhe des Lebens hinaus ist,
mit seinem neuen Buche „Alexander Schmätzle" * Lehrjahre eines
Hinterwäldlers, nun ein Werk gelungen ist, von dem man glauben
möchte, daß es niemals mehr ganz vergessen werden kann, zum
mindesten immer wieder einmal ausgegraben werden wird als das
Dokument einer ungewöhnlich eigenwüchsigen mannhaft schönen
und deutschen Seele. Benno Rüttenauer hat schon viel geschrieben;
er hat mit Romanen begonnen, die Probleme behandeln, wie sie
mehr oder weniger im Gesichtskreis der Zeit lagen und mit der Zeit
auch vergessen sind, gelegentlich unter ihrem Niveau lagen. Er
hat sich vor Jahren eine eigene Spezies geschaffen, indem er mit
Takt, Witz, Geist, Humor französische Memoirenbände zu so etwas
wie deutschen Romanen und Novellen zurechtschnitt, die wohl
vielfach den Vorbildern zu nahe blieben, als daß sie als selbständige
Kunst empfunden werden konnten, in ihrem Lebensgefühl als Äuße-
rungen alter Haudegen oder galanter Priester unserem Volkstum
auch zu fremd waren, als daß sie sich fest einbürgern konnten,
aber doch immer eine brillante Lektüre bilden. Wer in diesen Heften
den Aufsatz über Maröes und seinen Biographen gelesen hat,
weiß, daß er auch als künstlerischer Einfühler und Beurteiler ein
höchst lebendiger und kapriziöser Geist war, dabei ein wahrer
Ausdruckskünstler.
Dieses neue Buch nun schweißt als ein Werk vollkommenster
Reife die verschiedenen Seiten seines Wesens ungeahnt schön zu-
sammen: Auch hier lebt noch etwas von der alten Haudegenherrlich-
keit der letzten Memoirenbücher, in denen er sich in die adligen
Kriegerseelen von Frankreich vorrevolutionärer Zeit einzufühlen
vermochte, in der Handfestigkeit nämlich, mit der der Satzbau höchst
lebendig vorwärtsgetrieben wird, gelegentlich mit Wendungen,
die schon sehr viel gebraucht sind und doch wieder rein klingen, weil
sonst alles so erlebt ist; in der Handfestigkeit, mit der die ganze Hand-
lung eingeteilt und fest auf zwei Beine gestellt ist. Aber da der Held
dieser der Form nach autobiographischen Geschichte ein Deutscher
ist, der wie ein rechter deutscher Bub vom Lande sein erstes Jahr-
zehnt m das Grün von Wiesen und Gärten hinausträumt, wo
ständig soviel vor sich geht, in das Himmelsblau hinauf, zu Bach-
läufen hinunter, später, etwas ungeschickt und tölpelig in die Fremde,
sogar nach Paris kommt, um langsam doch etwas Lebensart zu
lernen und seine Talente zu nutzen, so ist das Buch doch wieder so
deutsch, wie nicht viele in unserer Zeit. Man denkt an die alt-
deutschen Bilder mit ihrem klaren Klange blau — rot — grün,
auf deren Wiesen die Blumen so wundersam stehen wie hinein-
gesteckt; man denkt an die Romantik, deren Ton manchmal
aufwacht, nur daß in der Realistik der Sprache doch immer-
während moderne Anschaulichkeit sichtbar wird. Und denkt, daß
hier eigentlich der Mensch ist, von dem ein Friedrich Huch
träumte, ohne allzuviel Problematik, aber doch garnicht
ohne Tiefe.
Man kann sich kein Buch denken, das aus einem diesseitigeren
Lebensgefühl heraus geschrieben sei. Diese ganze Jugendgeschichte
* 2 Bände, bei Georg Müller in München.

eines Pfälzerkindes, dessen Vater aus der alten großen Familie
der sinnierenden deutschen Schuster und Schneider ist, kann man
als eine Kette äußerer Abenteuer lesen. Wie er in der wildumwach-
senen abseitigen Dorfhütte zum Leben erwacht, wo die Liebe
einer treuen Mutter immer wie Himmelsbläue über ihm steht,
und ihm als Sonne die unbeirrbare Zukunftshoffnung des Vaters
leuchtet; wie er früh lernt, daß es an der Lebenstafel ein Oben und
Unten gibt, und zu allen Dingen der Bildung, auch zu der Musik,
die sein Beruf werden soll, nur nach grimmigen Plagen und Sehn-
süchten, auf Nebenwegen und an zweiter Stelle, mit Demüti-
gungen und Bedrückungen kommt; wie er schlafend in das Aben-
teuer des Sechsundsechziger Krieges fährt und später — im zweiten
Bande — in seinem Lebensgefühl schon sicherer, doch an ganze
glückliche Zeit in reicher Freude, in die Nähe der Liebe, wenn auch
schließlich noch einmal an die Armut kommt. Prachtvoll ist der
kurze Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn am Schluß des
Buches als Nachtrag, wie der als Schmalzendorf nun vom öster-
reichischen Kaiser Geadelte in unveränderter Liebe an die Mutter
zu Hause schreibt; da klingt wie Bachsche Musik der Ton des früheren,
unzersplisseneren, des kräftigeren, aber auch naiveren Deutsch-
tums, des Deutschtums des siebzehnten Jahrhunderts, auch noch
des achtzehnten.
Und doch hat auch dieses so diesseitig scheinende Buch seine
Philosophie und wie jedes echte deutsche Buch seinen metaphysischen
Untergrund: Wundervoll ist zuerst, wie schon um das Kind mit ganz
einfachen Strichen die moralische Welt aufgebaut wird, der gute
Mensch, der zu helfen und zu fördern sucht, der böse, der hemmen
und zerstören will; wundervoll ist, wie dem Knaben gleich das Weib
gegenübergestellt wird, das zwar einen Zug zu einem bestimmten
Manne hat, aber nichts Bestimmtes zeigt, sondern spielt und im
Grunde wartet, wer es nehmen wird. Und wenn das Buch eine
Helle, klare und leichte Hauptmelodie hat, so wird mit kontra-
punktischer Kunst immer und immer eine dunkle dagegen geführt:
die von der Grausamkeit, die auch in dem in Augenblicken so sonnigen
Leben steckt. Sie wird dem Knaben zuerst als eine Erfahrung
in der Natur vorgeführt, am Neuntöter, der seine Opfer auf Dornen
aufspießt, gleich in Verbindung mit einem menschlichen Erlebnis,
wo er zum ersten Male Ungerechtigkeit zu spüren bekommt; sie
kehrt in Liebesabenteuern, in sozialen Kämpfen wieder und wird
zweimal bis in die Grausamkeit des Krieges verfolgt. Der erste
Band hat noch andere kompositionelle Mittel, sehr schön ist ein Par-
allelismus, indem das Schicksal des Knaben als das des deutschen
Träumers in der Form reiner Poesie als Märchen noch einmal
als Erzählung in der Erzählung vorkommt. Der zweite Band ist
in dieser kompositionellen Arbeit schwächer und dadurch lockerer;
er bekommt ein bißchen von einer Reisebeschreibung, aber das
kann dem Ganzen nicht allzuviel anhaben: Das Buch hat noch
die besondere Größe, daß sich in ihm der Anspruchsvollste mit dem
Schlichtesten, der Alte mit dem Jungen vereinigen kann; es ist
das Buch für ein Volk, und das kann man von wenigen sagen.
Möchten daran manche zu Weihnachten denken. I. Benn.
Le UntergangSftunde der „Titanic"
versucht Max Dauthendey in einem Gedicht darzustellen,
das er, zum ersten Jahrestag, dem 16. April 1913, bei A. R. Meyer
in Berlin-Wilmersdorf erscheinen ließ. Er ist unzweifelhaft ein
wirklich dichterisches Naturell: seine Landschaften sind übergüldet
von einem fränkischen Weinlicht, es gelingen ihm Zeilen voll einer
visionären Sommerlichkeit; auch hier fehlt es an dichterischen Schön-
heiten nicht ganz: aus dem Gesicht des Unterganges erwacht er,
„mit dem Geschmack des bittern Meeres noch im Mund".
Aber so starke Zeilen, ja überhaupt nur dichterische, sind in diesem
Gedicht sonst nur selten zu finden, und die wenigen dichterischen
Gefühle und Anschauungen sind verunstaltet durch den gequälten
Ausdruck. Um reimen zu können, zerrt er das Zeitwort ans Ende:
„auf mancher Todesstunde Lorbeer ruht", „der Tod auch nach den
Edelsteinen greift", „ein tödlich kalter Atem mit mir zog", und
selbst stärkere Zeilen werden dadurch entstellt: „getragen von dem
eisigsten der Winde, noch lange ich auf leeren Wassern flog". Cs
soll hier nicht etwa die Ansicht ausgesprochen werden, es bestehe
unter allen Umständen eine Vorschrift, daß grammatische und dichte-
rische Konstruktion sich decken. Wenn Mörike ein Gedicht schließt:
„Auf einmal blitzt das Äug', und, wie ein Gott, der Tag
beginnt im Sprung die königlichen Flüge!",
so wird nur ein Dersphilister die Stellung des Vergleichs: „wie
ein Gott", der grammatisch hinter „beginnt" gehört, nicht als



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