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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Lissauer, Ernst: Fritz Schnack
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Benn, Joachim: René Schickele
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0342

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Und dieses trunkene Blut glänzt Trunkenheit ringshin: das
Feld ist der „Hochzeitssaal" der glühenden Blumen, selbst „das tote
Marienbild" wird von den Reben in „bacchische Lust" gehüllt.
Und überall hört es Gesang: „ein Flügel singt" aus einem Fenster,
„und eine Stimme kann sich nicht mehr fassen", „eine Stimme geht
singend durchs Helle Haus",
„Die Brunnen rauschen lauter in die Becken,
Als wollten sie die Helle Stille decken
Mit ihrem Liede voller Trunkenheit . .
und selbst singt dieses Glück sich aus in Rhythmen, die sich oft
schon zu hymnischer Lange dehnen.
Mitten in aller Seligkeit steigt Gedenken des Todes empor:
„Die Jahre spulen sich von großer Spindel ab,
Einmal steht die Spindel — dann sinke ich hinab".
Nichts ist charakteristischer für diesen Dichter als diese ganz
naive Darstellung des Todes:
„Keiner kann mehr dann über die glühende Dorfgasse gehn..."
Aber sein Ton rauscht lauter, als wollte er den Kummer um das
Ende decken mit einem Liede voller Trunkenheit:
„In jedem Lenz sprossen die Pflanzen auf deinem Gartenbeet,
Alle Sommer glüht an den Berghangen dein fröhlicher Wein,
Alle Herbste dein Nußbaum voll Früchten steht —
Seele, süße Seele: noch ist die Erde dein!"
Und noch steht er am Anfang, alles ist ihm neu: „wer war, be-
vor ich ward?" Den Tag ruft er an:
„Herauf! — Ich will! Ich will! — Herauf, uralter Tag!"
Er will, und wir hoffen auf sein Wollen. Lissauer.
§Uene Schickele.
Wer das schöne und schmeichelnde Bewußtsein haben will,
ein starkes Talent schon verhältnismäßig früh seinem Wert nach
erkannt zu haben, der muß sich nunmehr den Namen des elsässischen
Dichters Rens Schickele gut einprägen. Rene Schickele ist hier
mehrfach genannt worden, so in dem Aufsatz über „bleibende
Bücher", zu denen sein Roman vom „Fremden" gerechnet wurde.
Es war kein eigentlich gelöstes Buch, was damit empfohlen wurde,
denn es verlief auf eine fast sonderbare Weise im Sande; aber es
war von erstaunlicher Originalität der Sprache und des sinnlich-
seelischen Erlebnisses überhaupt. Dazu kulminierte es in einer
Szene, wo schumannisch differenzierte, schumannisch nervöse Seelen-
zustände in einen vollkommen phantastischen Vorgang umgesetzt
waren, wie er so kühn, so durchaus klar in seiner Symbolik bei aller
Ferne von der Allegorie in der deutschen Dichtung noch kaum vor-
handen gewesen war: einer großen Meervision. Renö Schickele
hat seitdem drei neue Bücher veröffentlicht, und sie zeigen den
Gereiften auf so viel neuen Wegen, beweisen eine solche Fähigkeit
zur Wirksamkeit ins Breite, daß man seiner Zukunft sicher sein darf.
Das schönste von den drei Büchern ist die Geschichte aus Paris
mit dem Titel „Meine Freundin Lo". Sie spielt wie „der Fremde"
in den Kreisen Pariser Intellektueller, um nicht zu sagen, Pariser
Bohemiens, und handelt von einer hinreißenden kleinen Pariser
Schauspielerin, die treu immer nur auf drei Monate nacheinander
die Glieder eines Freundeskreises mit ihrer Liebe beglückt. Wer
von diesem Thema vernimmt, mag denken, es handele sich um
eine der konventionellen französischen Ehe- und Liebesbruch-
geschichten; in Wahrheit ist es eine echte Dichtung, die Renö
Schickele mit dieser scheinbar so einfachen Geschichte eines Liebes-
abenteuers geschrieben hat, und was dem flüchtigen Blick stellen-
weise wie eine impressionistische Schilderung Pariser Milieus er-
scheint, hat einen legendären Untergrund: Die Liebeisthier, nicht
so ganz anders als in den „Chinesischen Gespenstergeschichten", die
einst so warm empfohlen wurden, eine natürliche Macht, deren
Recht, wie sie anch wirke, niemand bezweifeln darf, da ihre
göttliche Herkunft außer Zweifel siebt. Indem die drei Freunde
die Liebe der schönen, graziösen Lo empfangen und allesamt
doch an den Punkt kommen, wo die Geliebte verschwindet, um
als Freundin wiederzukehren, erleben sie das Wesen des Lebens
selbst, das allen ideologischen Wünschen zum Trotz schließlich un-

beherrschbarer Trieb ist, schenkt und nimmt. Es ist so etwas, wie
eine neue Liebesreligion, was hier wie in vielen neuen Büchern
dargestellt wird, in Worten und Sätzen und Szenen von girlanden-
hafter Schönheit, zusammengebundenen Wort- und Satzblüten,
so echt und rein in ihrer Natur und so erlesen, daß es nun auch
mit Vogelstimmen aus ihnen singt.
Das zweite Buch ist auch eine Erzählung aus Paris, nur
kleiner, fast nur ein lustiger Aphorismus: wie der „Fremde"
vielleicht gegen den Schluß zu ein wenig flauer, manchmal wohl
zu lose, aber immer graziös. Cs handelt von einem guten deutschen
Jungen, der nach Paris kommt, einem Gärtnersburschen, der
einmal aufs härteste aus seinen deutschen Illusionen von weib-
licher Treue gerissen wird, um das zweite Mal nur deshalb nicht
enttäuscht zu werden, weil seine Augen nicht klar genug sehen: Das
ist nicht mit der harten Skepsis eines Maupassant klargelegt, sondern
mit einer wissenden Heiterkeit, die fast etwas von der rokokohaften
Grazie aus der Jugendzeit unserer Klassiker hat; denn diese Er-
zählung ist nicht mehr nach impressionistischer Art in Schilderungen
geschrieben, sondern zum erstenmal episch durcherzählt.
Das dritte Buch sind Aufsätze aus Paris, wo sich Schickele
vorübergehend als Journalist betätigt hat, darunter auch solche,
die zwar nicht eigentlich politisch sind, denn sie beschränken sich auf
Charakteristik und Bericht, aber doch aus politischem Milieu. Cs
sind ganz ungewöhnliche Arbeiten von einem Stil, wie er in diesem
Gebiet bisher nicht zu finden gewesen ist, häufig durchsetzt von
einer Ironie, die die Waffe eines geborenen politischen Kämpfers
und nicht nur eines Dichters ist. In der politischen Stellungnahme
ist wohl viel von dem allzu typischen, in Frankreich mehr als in
Deutschland verständlichen Haß gegen den Bourgeois zu fühlen; hier
kommt der Schuß Literatentum in Schickeles Wesen zum Ausdruck.
Daß die sozialistische Anschauung, die anscheinend die Basis der
Aufsätze ist, durchaus klar herausgearbeitet wäre, kann man nicht
sagen. Aber wo Schickele, wie sonst als Dichter immerwährend, an
die reine Schilderung kommt, nur nicht im Anschluß an poetische
Geschehnisse, sondern aus der Perspektive des kämpfenden Dema-
gogen, gewinnt seine Malerei eine Größe, die an das Temperament
Daumiers erinnert: Solche Porträts wie die von Iaurös, Roose-
velt, Briand, ein Aufsatz wie der „mtense liks" genannte über das
Bopermatch in Amerika, oder einfache Berichte wie der über einen
„Mord", das „Tagebuch", „Eine Heilige in Konkurs" sind Beispiele
eines ganz großen Journalismus.
Freilich zeigen sie geradeso wie die Dichtungen Schickeles,
wie schwer die Stellung nicht nur der Lothringer sondern auch
der Elsässer heute zwischen den beiden großen Reichen ist, von
denen sie sich sprachlich doch für das eine entschieden haben: Bluts-
mischung und jahrhundertelange Erziehung haben in ihnen ein
Formgefühl für Leben und Kunst entwickelt, das sich mit dem
Formgefühl keiner der beiden Nachbarnationen völlig deckt, so daß
der Deutsche etwa in den Büchern Schickeles bei aller Sprach-
beherrschung oftmals Spuren romanischer Diktion, romanischer
Anschauung spürt. Auch der Gesamtform nach stehen Schickeles
Arbeiten zu einem guten Maße unter dem Einflüsse romanischer
Muster, wenngleich man überall die deutsche Note mit als Grund-
ton zu hören meint. Mag Schickele sich dem Willen nach, wie er
es tut, rückhaltlos auf die deutsche Seite stellen, nur daß er mit
einer geistreichen Wendung erklärt, deshalb nicht auf die Marseillaise
verzichten zu wollen, da sie eine europäische Angelegenheit sei:
Damit ist die Vergangenheit nicht vergessen. Aber sie soll es auch
nicht. Die Elsässer stehen heute vor der Aufgabe, nach dem Bei-
spiele der Preußen, Bayern, Württemberger ein eigenes Landes-
bewußtsein auszubilden, in dem sie sich als Deutsche mit einer zum
Teil französischen Vergangenheit und also Sympathie für franzö-
sische Wesen fühlen; nur mit dieser deutlichen Bejahung ihrer Ver-
gangenheit und Gegenwart können sie als Reichsdeutsche in ihren
Empfindungen und Leistungen allmählich auf feste Füße kommen,
nur mit solcher festen Statuierung eigenen Wesens sich mit ihren
Leistungen die Anerkennung der Rein-Deutschen erkämpfen.
Können dann aber als eine Art Zwischennation festen Charakters
auch eine besonders wertvolle Vermittlerrolle spielen, die solche
Talente wie Schickele heute tatsächlich schon mit dem klarsten
Bewußtsein und dem schönsten Erfolge auf sich nehmen.
Joachim Benn.

Verantwortlich: Wilhelm Schäfer. — Druck und Verlag: A. Bagel, Düsseldorf. — Kunstdruckpapier: I. W. Zander-, B.-Gladbach.
Alle redaktionellen Sendungen sind an den Herausgeber Wilhelm Schäfer in Vallendar a. Rb. erbeten.
Für unverlangte Manuskripte und Rezensionsexemplare wird kein« Verpflichtung übernommen. Rückporto ist beizulegen.
 
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