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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Baquet, Alfons: Schwester Mathild
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0363

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Mathild.
Von Alfons Paquet.
In einer jener Sektenkirchen, die seit dem Anfang
des vorigen Jahrhunderts die große stille Bewegung des
mittelalterlichen Täufertumes wiederholend sich über
Deutschland und selbst über Rußland und Ungarn hin
ausbreiten, wirkte der Missionsinspektor Danemann, der
einst ein armer holsteinischer Bootszimmermannsgeselle,
dann Jahrzehnte hindurch Prediger in kleinen Städten
gewesen und endlich von der Konferenz der Brüder nach
Berlin berufen worden war. Dort gewann er einfluß-
reiche Freunde auch in den Kreisen, die nicht öffentlich
zu seiner Gemeinschaft gezählt sein wollten, und wurde
mit ihrer Hilfe zum Gründer zweier Anstalten, die bald
vortrefflich nebeneinander bestanden. Die eine war ein
Diakonissenheim, wo die Töchter der im ganzen Lande
verstreuten Gemeinden sich zu Pflegerinnen auszubilden
Gelegenheit hatten; die andere eine Afrikamission, die
zwar über bedeutendere Mittel als über einen steten
kleinen Zustrom jugendlicher Menschen nicht verfügte,
aber sich einer der bestehenden großen Missionen an-
schloß und nun alljährlich einen oder zwei ihrer Send-
linge zur Schule schicken und später für den Dienst unter
den Schwarzen hinausgeben konnte. Wer den Alten
auf der Straße sah, sein breites, gesundes Gesicht mit
dem übers Ohr gestrichenen weißen Haar und seinem
aufrechten Gang, der mochte ihn für einen Seelsorger
wohl überhaupt nicht halten, eher für einen Schiffs-
reeder, der sich aus einem kleinen Küstenort auf einen
Besuch in die Hauptstadt begeben hätte. So hatte, gegen
die Schneezeit seines Lebens hin, die Weite des Arbeits-
feldes und die erfolgreiche Kraft seiner Unternehmungen
dem einfachen Manne einen Ausdruck wiedergegeben,
der ihm vielleicht von seinen Vorfahren her, die freie
Bauern und Schiffer gewesen sein mochten, im Blute
lag und um den er in den Mannesjahren, die er in Armut,
in geringem Stande und in einer gar bescheidenen
Tätigkeit verbrachte, wohl manche innere Kämpfe und
Niederlagen hatte erleiden müssen.
Dem Alten war von seiner Familie, die ihm gerade
ein Jahrzehnt seines Lebens, das arbeitsreichste, mit
zärtlichen Sorgen fast übermäßig angefüllt hatte, ein
Sohn geblieben, der nun seit fünf Jahren schon dieser
Mission als Arzt angehörte. Dem sechzigjährigen Mann
verbargen sich seine Erinnerungen, verbarg sich auch das
Gefühl von Vereinsamung, das ihn zuweilen beschleichen
mochte, in seiner Tätigkeit, die ihn fast täglich mit neuen
Dingen und Fragen zusammenführte und ihn frisch
erhielt. Nur auf seinem Schreibtisch im Schlafzimmer
standen die verblaßten Bilder einer von Leiden und
stiller Schwärmerei verzehrten Frau und der kleinen
Kinder, die um die Mutter her alle bis auf das älteste
vor mehr als zwei Jahrzehnten schon ins Grab gesunken
waren. Mit welchen Entbehrungen er seinen einzigen
Jungen durchs Gymnasium gebracht und ihm, wobei
wohlhabende Freunde halfen, den Besuch der Uni-
versität ermöglicht hatte, so waren doch alle jene Opfer
noch gering im Vergleich zu dem Schmerz, als während
seiner Studentenzeit der Sohn sich zwar stillschweigend,
doch, zur Rede gestellt, mit einem von den heftigsten

Anklagen erfüllten Ausbruch von der frommen Gläubig-
keit des Vaters losgesagt hatte. Dem Vater, der zuerst
in seinem Zorn mit Gewaltmaßregeln gegen den Ab-
trünnigen und Undankbaren seiner Bestürzung Herr zu
werden suchte, war doch nichts übrig geblieben, als seiner
Heftigkeit, vor der er selbst noch viel mehr als der Sohn
erschrak, Einhalt zu tun und tief gedemütigt sich einzu-
schließen und in aufwühlendem Gebet mit seinem Gott
zu ringen. Der junge Arzt hatte sich außerhalb eine
Praxis gesucht. Da brachte ihn eine schwere Krankheit,
die der seiner verstorbenen Mutter ähnlich war, dem
Tode nah; seine Genesung, noch mehr aber seine plötz-
liche Bekehrung erschien allen, die davon erfuhren, wie
ein Wunder und erregte das freudigste Aufsehen. Der
Sohn warf sich dem Vater wieder in die Arme. Doch
als ob er sich dieses Vorgangs in seinem Innern
schäme, äußerte er fast zugleich den Entschluß, in die
Dienste der Mission zu treten. Ein halbes Jahr später
war es geschehen; er lebte jetzt auf einer der entlegensten
Stationen in den afrikanischen Wäldern. Von seinen
Reisen und von den Fortschritten der Arbeit schrieb er
regelmäßige Berichte, deren Eintreffen zu den Ereig-
nissen in dem gleichmäßig stillen Leben des Vaters ge-
hörte und die diesem Leben als eine Art Tribute zu-
gingen aus einer kleinen Ferne des Heidentumes, die er
dem Geiste untertan gemacht. Von den vielen Freunden
des Alten und besonders von den Diakonissen, die ihm
nicht ohne Pedanterie den Schein eines eigenen Haus-
wesens erhielten, wurden die Briefe ausgenommen wie
von einer einzigen Familie, und auch den Ferner-
wohnenden wurden diese Schreiben, die bald zu einem
Band des lebendigen und herzlichen Zusammenhaltes
aller geworden waren, durch Umhersenden oft nach
Monaten noch bekannt gemacht.
Vater Danemann hatte seine Wohnung im Süden
Berlins, im zweiten Stockwerk eines sehr großen neuen
Hauses, das der Gemeinschaft gehörte und sich von den
anderen Zinshäusern jener Stadtgegend nur dadurch
unterschied, daß eine breit und niedrig gebaute Kapelle
an die Stelle des üblichen Hintergebäudes gesetzt war.
Das Vorderhaus war nur von Leuten bewohnt, die zur
Gemeinschaft zählten; unten befand sich eine kleine Buch-
handlung der Mission, oben wohnten die Diakonissen
und die Familie des jüngeren Predigers, der dem Alten
als eine Art von Gehilfen nahestand und vielleicht ein-
mal später sein Nachfolger werden konnte. So war das
Haus zwar von außen durch keinerlei Anzeichen von den
hohen, grauen, im Sommer durch rote und grüne
Geraniumkränze in allen Balkonen geschmückten Häusern
der Straße zu unterscheiden, nur seine friedfertigen In-
sassen mochten den näheren Kennern wie eine Insel
in dem oft lärmenden und von kleinlichem Gezänk
niemals ganz verschonten Leben der Straße erscheinen.
Hier in seiner Wohnung traf der alte Mann an einem
Sonnlagmorgen, als er aus der Kapelle über den Hof
und über die Hintertreppe heimgekehrt war, einen un-
erwarteten Besuch. Es war ein hagerer, gebräunter
und offen blickender Herr, der sich als Ingenieur Back-
meister vorstellte und einen Brief hervorzog, den der
Alte am Papier des Umschlages, an der Dicke und an der
Aufschrift sogleich als den schon mit Ungeduld erwarteten,
diesmal verspäteten Brief seines Sohnes erkannte. Der
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