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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Buchwald, Reinhard: Kritik und Literaturwissenschaft
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Benn, Joachim: Otto Flake
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0087

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schäft und Literaturgeschichte ja obne weiteres identisch —, strebt
heute nicht etwa nur historische Erkenntnisse an, wie sie es bei
Gervinus tat, sondern sie will zum dichterischen Genüsse erziehen.
Also richten sich die Vorwürfe, sie mögen in der Hitze des Ge-
fechts formuliert werden wie sie wollen, tatsächlich weder gegen
wissenschaftliche Erörterungen künstlerischer Probleme überhaupt,
noch gegen jede historische Kunstforschung, oder anderseits prin-
zipiell gegen jedwede Kunsterziehung auf dem Wege logischer
Betrachtung, — sondern gegen die Rolle, die gerade die Ge-
schichte in diesem letzten Zusammenhänge spielt. Denn sobald
der Historiker, wie es heute der Fall geworden ist, der einzige
künstlerische Volksbitdner schlechthin ist, tritt allerdings eine un-
gesunde Überlegenheit des Alten über das Zeitgenössische in die
Erscheinung: das Alte ist das Erklärbare, das, worüber man allent-
halben Auskunft erhält, und das, dessen Kenntnis zur Bildung
gehört; das Neue vermag niemand aus dem Leben und den
Briefen der Dichter heraus zu erläutern, es ist auf sich selbst an-
gewiesen, ja man kann sich darüber überhaupt nur so weit einiger-
maßen unterrichten, wie die letzte Auflage einer Geschichte der
modernen Dichtung reicht. Es ist unseren Produzierenden gewiß
nicht zu verdenken, wenn sie gegen dieses Mißverhältnis Front
machen; ganz abgesehen davon, daß die historische Kunsterziehung
vieleicht nicht absichtlich, aber doch faktisch mit ihrem Kanon des
Klassischen, mit ihrem Grundsatz, daß die Geschichte die Auslese
des ästhetisch Dauernden treffen müsse, noch viel schlimmere
Vorurteile erzeugt.
Maync kann natürlich die Frage der historischen und bio-
graphischen Interpretation nicht umgehen; aber daß diese, wie
er zu ihrer Verteidigung anführt, zum Aufbau einer „Ästhetik
von unten" überaus viel Material liefert, ist wieder eine Sache,
die keines Beweises bedarf. Auf ein ganz anderes Blatt gehört
es hingegen, ob das Verständnis der Dichtung wirklich durch das
Aufdecken des poetischen Erlebnisses und der Prioritäten ge-
fördert wird. Man müßte da freilich erst über das Wesen des
künstlerischen Verstehens Klarheit schaffen, kein leichtes Srück
Arbeit, wo alle Definitionen in den Geisteswissenschaften seit
langem als Pedanterei verpönt sind. Jedenfalls wird man einer-
seits die Einsicht in den Prozeß unterscheiden können, wie aus
der Individualität des Dichters der Organismus des Kunstwerks
erwachsen konnte, also das Verständnis des Schaffens; ander-
seits aber das Verständnis der Schöpfung, das bei der Eigenart
der unlogischen oder doch nur in nebensächlichen Elementen lo-
gischen Phantasiewerke nichts anders ist als die Voraussetzung
dafür, daß die logischen Wortbedeutungen und andere verstandes-
mäßigen Elemente, aus welche die Dichtung als auf ihr Material
angewiesen ist, unser seelisches Nacherleben nicht hindern. Ver-
stehen — verstandesmäßiges Aneignen — ist tatsächlich beim
Kunstwerk nur dieses; wenn man es mit Nacherleben überhaupt
oder Genießen gleichsetzt, so ist das ein Trugschluß, der die Quelle
vieler weiterer Mißverständnisse werden kann und geworden ist.
Nur ein drittes kann man noch als Verständnis des Kunstwerks
bezeichnen oder richtiger als das Verständnis unseres Kunst-
genusses: nämlich die Fähigkeit, sich über die unbewußten Ge-
fühlswirkungen Rechenschaft abzulegen. Faßt man das Problem
so, so ist es sofort wieder begreiflich, daß sich die Künstler gegen
den heutigen Umfang der biographischen Kommentierung auf-
lehnen. — Hierher gehört auch das Kapitel der früheren Fassungen
der Dichtungen. Cs ist durchaus zweierlei, ob Goethe aus Wieland-
Lesarten, „aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet
zum Besseren arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des
Geschmacks entwickeln" wollte, oder ob Rosegger dagegen pro-
testierte, daß die Urfassung eines Goetheschen Romans als das
eigentliche, das bekenntnismäßigere Kunstwerk in einer Volks-
ausgabe verbreitet würde. Und so scheint mir Maynes Scheidung
einer exoterischen und einer esoterischen Literaturwissenschaft
überhaupt mehr als anfechtbar, wenn sie auch heute sehr beliebt
ist; denn findet sich nicht eben biographische und entstehungs-
geschichtliche Deutung in allen schon durch ihre Auflage auf das
große Publikum angewiesenen Ausgaben, und sind diese nicht
meist von einem wahren Stab germanistischer Mitarbeiter be-
sorgt? Maync beruft sich selbst auf das Wirken A. W. Schlegels,
nach Walzels Ausdruck „des glücklichsten Vermittlers zwischen
Dichter und Publikum". Gerade ein Anknüpfen unserer Kunst-
betrachtung an die der „Gemälde" im „Athenäum" aber, mit der
auch die von Maync zitierten Antiphilologen Spitteler und Wid-
mann einverstanden wären, scheint uns heute not zu sein.

Mit dem Gegensatz des Künstlers zur Kritik, von dem Maync
ausgeht und auf den er sich auch im Titel seines Buches bezieht,
hat das alles direkt gar nichts zu tun; ebensowenig wie die heutige
Kunstwissenschaft — und sie weniger als die irgend einer früheren
Epoche — Kunstkritik treibt. Es ist schwer begreiflich, wie Maync
sich über diesen Gegensatz und über die Bedenken, die ihm ge-
legentlich aufsteigen, so leicht Hinwegsetzen kann. Wir müssen
auch hier erst einmal definieren; denn es gibt einerseits Kritik
als das Abgeben von Werturteilen, anderseits die sogenannte
produktive Kritik, d. h. das Begleiten des künstlerischen Schaffens
mit deni Kunstverstand. Daß das Zweite lediglich Sache einer
systematischen Ästhetik ist, leuchtet wohl ein; dagegen meint man,
daß die Geschichtsforschung das Werturteil kläre, indem sie es nur
mit dem Lebendigen und Dauernden zu tun habe. Darin ist
entschieden viel Wahres; aber es schafft nicht die Tatsache aus der
Welt, daß es die Geschichte prinzipiell mit historischen Werten,
die man als Träger von Entwicklungsmöglichkeiten oder anderswie
umschreiben mag, die Kritik mit ästhetischen zu tun hat, d. h. mit
Erregern starker Wirkungen auf die Genußfähigkeit des modernen
Menschen. Beides mag noch so oft zusammenfallen, so ist doch
die Zusammenkoppelung der Literaturgeschichte und Kritik nicht
geistvoller, als wenn man früher die Geschichte wegen des mo-
ralischen Gewinns der daraus entspringenden Menschenkenntnis
empfahl. Eine Versöhnung von Kritiker und Künstler ist vor allem
in dem äußerlichen Sinn, wie er schon eingangs dieser Aus-
führungen angedeutet wurde, natürlich eine Utopie; eine Ver-
ständigung der Kunstwissenschaft und der Kunst dagegen scheint
gar nicht so fern zu liegen, und ich weise gern noch einmal auf
die Bestrebungen Minors, Walzels und anderer hin, die vielleicht
geradeswegs dahin führen. Reinhard Buchwald.
tto Flake.
Vor etwa zwei Jahren erschien — im Verlage von Rütten
L Loening in Frankfurt am Main — ein Bändchen Novellen
von Otto Flake; die Titelnovelle hieß recht wirkungsvoll „Das
Mädchen aus dem Osten", die zweite „Der unbedachte Wunsch".
Im Mittelpunkt stand als erlebender Held jedesmal ein junger
Mensch von künstlerisch-geistigen Interessen. Die seelischen Themen,
die den Novellen zugrunde lagen, Liebesthemen, waren nicht
allzu ernsthaft durchgeführt, und so waren die Arbeiten nicht so
sehr Dichtungen wie Lebensschilderungen aus dem jeweiligen
seelischen Milieu: Darin bewährte sich eine offenbar an französischen
Mustern gebildete impressionistische Sprachkunst von großer Feinheit
und Delikatesse, die, wie schon bei Flaubert und noch mehr bei
Heinrich Mann, ihr Bestes in der konzentriertesten Ausmalung von
Landschaftsbildern, auch wohl von weiblichen Reizen gab, außerdem
aber im Gegensatz zu Flaubert und Heinrich Mayn in kleinen
aphoristisch zugespitzten Erörterungen allgemeinen Charakters
brillierte, die auf eine merkwürdig ernsthafte Lebensforschung in
sinnlichen Dingen hindeutete. Alles in allem konnten bei mancherlei
Raffinements im Einzelnen die beiden Novellen dennoch ihre
dichterische Notwendigkeit nicht so ganz erweisen und wirkten
deshalb als „Versuche"; als solche scheinen sie für die Zukunft
Genialität auszuschließen, ließen im übrigen aber viele Möglich-
keiten offen.
Don dieser Zukunft enthüllt sich etwas in Otto Flakes zweitem
Buche, dem Roman „Schritt für Schritt",* der in gewisser Hinsicht
wohl noch immer etwas von einem Versuch an sich hat, als solcher
aber sehr erheblich über das erste Buch hinausgeht und in manchen
Teilen in seiner herben Erfahrungsstrenge vielleicht schon Größe
besitzt. Rein auf die künstlerische Durchbildung aller Teile hin be-
trachtet ist das Buch allerdings fast weniger gelungen als das erste:
Erstens einmal muß der Dichter selber sehen, daß ihm die Einleitung
in einem ganz ähnlichen Sinne mißlungen ist, wie Paul Ernst
die seine zu dem Roman „Der schmale Weg zum Glück", wo das
Einleitungskapitel in einem völlig anderen Stil geschrieben ist, als
die übrigen. Flake hätte den Mut haben sollen, den konzentrierten
Bericht von der Jugend seines Helden entschieden an den Anfang
zu stellen, auf die Gefahr hin, sich damit von Flaubert zu entfernen,
anstatt diese Darstellung in eine Szene mit Menschen einzuwickeln,
die später garnicht benutzt werden. Dann wird an einer Stelle
der Handlung, wo das Liebesverhältnis des Helden mit seinem
Mädchen äußerlich unterbrochen ist, der Versuch gemacht, das Thema

* Paul Cassirer, Berlin.


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