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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Walser, Robert: Nächtliche Wanderung
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Schäfer, Wilhelm: Tapferkeit oder Verrat?
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Benn, Joachim: Briefe der Liebe
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0294

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die nicht die seine war: er verriet sich aus Tapferkeit für andere.
Wer aber war er, der sich verraten durfte? War sein Gefühl
ein Ding seiner persönlichen Willkür, oder war es ein Werkzeug
der Allgemeinheit? Stand es im Willen der Fügung, die ihm dieses
Werkzeug gab, daß er es abstumpfen durfte ? Handelte er nicht, indem
er sich einer zufälligen Forderung der Allgemeinheit fügte, dem Sinn
dieser Allgemeinheit entgegen? Verriet er nicht mehr als sich, sün-
digte er nicht, wie es in der Bibel heißt, wider den heiligen Geist?
Ich fürchte, die den Anlaß kennen, werden lächeln, daß gar-
nicht so ernste Dinge in Frage gestanden hätten, um so die Schicksals-
frage zu stellen. Aber mich beunruhigen diese Dinge nicht, sondern
der Mann; und auch da nicht persönlich, sondern die Frage, in
die er sich und mich stellte. Wird nicht überall oder meist ein Stück-
chen Blei hinzugelegt? Sind nicht rundum die Instrumente stumpf
geworden um der Allgemeinheit willen? Und könnte es nicht sein,
ist es nicht so, daß die Allgemeinheit gerade der scharfen Instrumente
bedarf? Obwohl ziemlich alles mit stumpfen Instrumenten und
einem Klümpchen Blei gemacht wird.
Zur Antwort reitet ein dürrer Ritter her, den eine Mühle
am Horizont zur Tapferkeit begeistert. In den klappernden Mühl-
flügeln wird der Wind gefangen, Korn zu mahlen für die Bäcker,
daß Brot gebacken werden kann. Wilhelm Schäfer.

I^riefe der Liebe.
Heißt ausgewählte Liebesbriefe vergangener Zeiten lesen
nicht so etwas, wie in einen Kasten voller Spinneweben sehen,
schön ausgesponnener, wunderbar verschlungener Spinneweben
vielleicht, aber doch von Spinneweben? Mit Liebesbriefen eines
einzigen Paares kann es anders sein: Wo die von lebensvollen,
geistreichen, phantasiebegabten Menschen stammen, die womöglich
noch in merkwürdige Schicksale verstrickt waren, und so zusammen-
gestellt sind, daß sich nicht allzuviele Wiederholungen ergeben,
mag man sie als einen Roman lesen, der stoffreicher ist als irgend
ein absichtsvoll konzipiertes Buch, der die Masse des Lebens dichter
und unmittelbarer in sich hineingezogen hat, als jede Dichtung.
Allein Briese aus verschiedenen Zeiten nebeneinandergestellt
wenden sich sofort an das kulturhistorische Interesse anstatt des all-
gemein-menschlichen, und sie können reizvoll deshalb nur als Bei-
gaben zu einem kulturhistorischen oder psychologischen Text werden,
dessen organisierendem Geist sie als verlebendigende interessante
Illustration dienen.
Den Typus der Sammlung von Briefen Liebender aus vielen
Zeiten bat ausgezeichnet mit dem Typus des kulturhistorischen,
psychologischen Textes Charlotte Westermann zu verbinden gewußt
in der Sammlung „Briefe der Liebe"*, einfach, indem sie jeder
Einzelauswahl aus dem Briefwechsel eines Paares eine kleine
biographische Skizze voranschickte. Solche biographische Skizzen
sind heute zu einer vielbeliebten literarischen Gattung geworden,
weil sie dem psychologisierenden Charakter der Zeit besonders ent-
sprechen: Herbert Eulenberg hat wohl mit seinen „Schattenbildern"
begonnen, unter denen die besten wirklich funkelnde Meisterwerke
einer ganz eigenen Art halbdichterischer, bei aller Bindung an die
Wirklichkeit sehr stark auf dichterische Intuition gestellter Lebens-
darstellung sind. Der junge Willy Dünwald, der sich nur mit der
Liebe der Dichter beschäftigt — die Leser der „Rheinlands" haben
in der letzten Zeit seinen Namen hier mehrfach gelesen —, bat die
biographische Skizze mit seinen minder dramatischen Instinkten
zu einer Art poetischer Studie von stark lyrischem, wenn auch zu-
weilen fast hysterisch gesteigertem Glanz gemacht. Charlotte Wester-
mann unterscheidet sich in diesen kleinen und höchst prägnanten
Einleitungsstücken ihres Liebesbandes von beiden dadurch, daß sie
als die intellektuellere Natur dichter bei der Form des Essays
bleibt, trotz der letzten Konzentration, die sie dabei erreicht, aber doch
nicht auf den lyrischen Schwung Dünwalds verzichtet und in ge-
wissen Sätzen dann auch noch das örtliche Szenarium glaubhaft
aufstellt, das bei Eulenberg eine so frappante Deutlichkeit hat.
Sie wahrt auch insofern ihren eigenen Stil, als ihre Äußerungen
durchaus fraulichen Charakters sind: Eine Weiblichkeit von erstaun-
lich echter und strenger Geistigkeit und merkwürdig schicksalsbaftem
Wissen um die letzten Entzückungen und letzten Enttäuschungen
gesteigerter Liebeskämpfe und menschlichen Lebenswollens über-
haupt findet sich in diesen kleinen Arbeiten eine aus lnrischem Emp-
finden und geistiger Übersicht persönlich gemischte Form, die der
* Verlag Langewiesche-Brandt, Ebenhausen, München. Preis
1,80 gut geb.; reicher gebunden 3 -K.

A^ächtliche Wanderung.
Einmal machte ich eine Nachtwanderung, es war eine
dunkle, wolkige, warme Mainacht. Die Erde blühte und duftete.
Aus den schweigenden nächtlichen Gärten flüsterte und lispelte es
mir zu, als sei alles Geheime nun offen und als rede das Ver-
schwiegene. Mein leichter, behender, fleißiger Fuß trug mich leicht
über die harte Landstraße. Das Harte war weich wie Flaum, und
das Mühselige machte mich nur lachen, als sei es die Freundlich-
keit selber. Ich hatte eine merkwürdige Freude an dem eigenen
fröhlichen Weiter- und Weitermarschieren. Taktgemäß ging es
von Dors zu Dorf, und die Dörfer schlummerten so schön, so fried-
lich. Nur aus den Gasthäusern drang manchmal noch einiger später
Lärm, und betrunkene Wirtshausgestalten taumelten mir hie und da
entgegen. Ich lief, als sei ich der behende Wind, oder als sei ich
ein Bote, der mit Windesgeschwindigkeit eine geheime Botschaft
an einen weit entfernten Ort trägt. Alsdann war es mir
wieder ums Herz, als sei ich ein flüchtiger Verbrecher, der die Nacht-
stunden benutzt, um auszureißen und sich in Sicherheit zu bringen.
Ich war wie ein Indianer, der über die Ebene springt; doch bei
mir ging es hin und wieder bergauf, um wieder in die Tiefe zu
sinken. Neugierig guckten oft die süßen Sterne blinzelnd zwischen
geheimnisvollem Gewölk auf den Fußgänger herab, und der Mond,
der wackere Freund aller derjenigen, die nächtlings wandern, trat
groß und majestätisch und freundlich aus der schwarzen Umhülltheit
hervor, um bald darauf wieder zu verschwinden. So kam es und
verschwand es und tauchte bald wieder auf, und ein unhörbares
Rauschen war in allem, die Nacht rauschte, als sei sie eine Quelle,
und das ist wahr: sie ist die Quelle alles Schönen, Lieben und Guten.
So war mir dann wieder, als sei ich ein Lebender, befindlich auf
der Suche nach der lockenden lieblichen Geliebten. Irgendwo im
Land, das so schön dunkel war, wohnte sie: ihr Fenster stand jetzt
vielleicht offen, daß alle ihre trämerischen Gedanken wie Vögel
hinausflatterten, um sich in der herrlichen Nacht zu verlieren. Sie
lag im Bett, aber ohne schlafen zu können und ohne einschlasen zu
wollen, da sie an den fremden kühnen lieben Burschen dachte, den
sie liebte und von dem sie wußte, daß er sie liebte. Solchermaßen
vertrieb ich mir die Zeit, die ich mit Laufen zubrachte, mit krausen
dunklen Einbildungen, indes die Brunnen neben der Straße leise
plätscherten. Einige Fenster hatten noch Licht, und das einsame
Licht nahm sich aus wie die Idee im Kopf eines seltsamen Menschen.
Auf solche Weise schritt ich vorwärts, fröhlich und voll Bangen,
mutig und voll Verzagen, gedankenlos und wieder voll Gedanken.
Robert Walser.
Tapferkeit oder Verrat?
Ich sah jüngst einen Künstler, den ich liebe und bewundere,
in einer grausamen Lage: er sollte mit anderen in einer Jury sein,
also ein Richteramt der Kunst ausüben, wofür es keine geschriebe-
nen Gesetze gibt, sondern wo das eigene Gefühl allein entscheiden
muß. Ich sah bald, daß er mit diesem Gefühl nicht zurecht kam; nicht
daß es ihm an Sicherheit gefehlt hätte, wohl aber verlangte sein Amt
einen andern Maßstab von ihm: er sollte unter künstlerischen Werken
eine größere Anzahl auswählen, als ihm die Entscheidung seines
Gefühls erlaubte; wo das für zehn sprach, sollten es vierzig sein.
Was tat er um der Sache willen? Er legte auf die Goldwage
seines Gefühls ein Stückchen Blei, aus Güte, Einsicht und An-
passung an den Zweck. Weil aber dieses Stückchen Blei in jedem
Fall eine Überwindung war, weil es zudem nicht aus seinem
Gefühl im Gewicht festgestellt, sondern aus der Einsicht künstlich
zurechtgewogen wurde: sah ich ein Beispiel von menschlicher
Tapferkeit vor mir, das mich im Innersten berührte. Ich mußte
daran denken, wie der selbe Künstler einmal im Winter einem
ertrinkenden Knaben in den eiskalten See nachgesprungen und
fast daran gestorben war, aus Tapferkeit; denn der Knabe blieb
ibm wildfremd: wie einfach und wie leicht wog das gegen dies.
Sich selber einsetzen, vielmehr wegwerfen gegen ein Fremdes, eine
bewußt kostbare gegen eine wahrscheinlich geringere Existenz:
weil der Zwang des mitmenschlichen Gefühls sprach. Hier aber
stand er verlassen von diesem Gefühl und kämpfte sich tapfer durch
— für was — für eine Einsicht?
Das war der Punkt, wo sich mir der Eindruck dieser Tapferkeit
verwirrte: was verleitete ibn, sein eigenes Instrument abzu-
stumpfen? Ein Amt, eine Gemeinsamkeit, eine Zweckarbeit, in
die er nicht persönlich sondern als Bevollmächtigter geraten war.
So war er gar nicht mehr er selber, so urteilte er als ein anderer
— geringer oder höher als er — aus dem Gewissen einer Einsicht,

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