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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Halm, August Otto: Leitmotiv und Bedeutung
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Walser, Robert: Johanna
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Lissauer, Ernst: Fritz Schnack
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0341

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ich die Maid"; dann: „mich hetzte das wütende Heer".
Die Themen des Anfangs erscheinen uns wieder, und
wir fühlen, wie das, was wir dort als gegenwärtig
miterlebten, zur Historie wird. Ich rechne das zu den
ganz großen Momenten, die uns die Kunst des Leit-
motivs schenkt.
3. Das Größte aber dessen sehe ich in einer Stelle
des Parsifal. Kundry hatte Parsifal mit Namen ge-
rufen; sie frägt den tief Bewegten, bisher Namenlosen:
„was zog dich her, wenn nicht der Kunde Wunsch?"
Die fragenden Worte von „wenn" an sind aufs natür-
lichste in einen Ausschnitt der aufsteigenden Tonleiter
gefaßt; es ist das so simpel, so unauffällig als nur möglich
komponiert:


Dieselbe Tonfolge, all sich völlig unbedeutend, wird
nun mit einemmal als bedeutend proklamiert, da das
Horn sie, mit einem zarten marcato die einzelnen Ton-
stufen betonend, nachahmt:


Das Orchester ist hier, wohl mehr noch als sonst bei
Wagner, der Sprecher des Schicksals.
Das dem Grale und Parsifal gemeinsame Schick-
sal, die Not des einen, die Mission des andern, hat es

Leitmotiv und Bedeutung,
so gefügt; den Geist des Grals und seiner Ritterschaft,
der Parsifal hergeführt hat, fühlen wir nun als wachen-
den und herrschenden nahe: was das Horn bewirkt,
indem es einen Teil des ersten und obersten Gral-
motivs bewußt andeutet, denselben Teil, den Kundry
unwissentlich und zufällig angedeutet hatte. Erst war
es wie durch natürliches Deklamieren entstanden, jetzt
soll es gelten und wahr sein. Wäre die Tonfolge nicht
gar so beiläufig: das überlegene und absichtliche Auf-
nehmen seitens des Orchesters könnte nicht diesen er-
greifenden Eindruck machen. Geradezu etwas von der
Vorsehung glauben wir zu verspüren, die sich des Zufalls
bemächtigt, der scheinbar losgelösten Eigengesetzlichkeit
des Individuums und des einzelnen Tuns ihr Siegel
aufdrückt und sie zur großen Gesetzlichkeit erhebt, ohne
daß dieses Irdische und Beschränkte etwas davon merkt.
Ein solches Hereinragen einer höheren Welt vermag
das genial angewandte Leitmotiv darzustellen; und mich
dünkt, gegenüber dieser wahrhaft metaphysisch ge-
stimmten Stelle sei Ehrfurcht am Platz.
Trotzdem: die Musik sagt hier, daß Überirdisches mit
im Spiel ist. Ihre höchste Aufgabe ist aber, zu sein,
zu tun, nicht zu erklären. Sie ist selbst ein metaphysischer
Vorgang, oder sie kann und soll es sein. Sie hilft die
Welt der Erscheinung geistig ordnen, dem Geist unter-
ordnen: und an diese ihr eigene Würde reicht auch
solches sublime Sagen und Erklären, Deuten und Be-
deuten noch nicht heran. August Halm.

Johanna.
Ich war, fällt mir ein, neunzehn Jahre alt, machte Gedichte,
trug noch keinen ordentlichen Kragen, lief in den Schnee und in
den Regen, stand des Morgens immer früh auf, las Lenau, fand,
daß ein Überzieher etwas Überflüssiges sei, bezog monatlich hundert-
fünfundzwanzig Franken Gehalt und wußte nicht, was ich mit
dem vielen Geld anfangen sollte. Kost und Logis hatte ich beim
Paketmann Senn. Senn ist mir unvergeßlich. Er machte stets
eine ebenso dumme wie finstere Miene, hatte einen struppigen,
rabenschwarzen Bart im Gesicht und spielte den ärgerlichen Ty-
rannen, eine Rolle, in die er, so häßlich sie sein mochte, wie ver-
narrt war. Seine beiden Söhne, Theodor und Emil Senn, prügelte
er. Die armen Jungen, sie bekamen Hiebe dafür, weil sie des
Dummkopfes von Vaters schlechtes Betragen nachahmten. Frau
Senn war eine liebe arme geplagte Frau, völlig des kleinlichen
Gewalthabers Sklavin. Das Essen war gut; lustige Pensionäre
waren stets da, und der Weißwein des Postpaketmenschen mundete
vortrefflich. Doch was bedeutete aller Weißwein gegen das Mädchen
Johanna, die ebenfalls das Vergnügen hatte, beim wilden Pöstler
logieren und kostgängern zu dürfen. Sie war auf dem Kontor
beschäftigt, ähnlich wie ich, und jeden Morgen gingen wir zusammen,
sie die Dame, und ich ihr Ritter, nach unfern Geschäftshäusern,
um hübsch tätig zu sein. Sie diente bei der Schreibmaschinen-
branche, während ich mein bißchen Kraft und guten Willen der Un-
fallversicherungs-Aktiengesellschaft freundlich zur Verfügung stellte.
Johanna war lieb über alle Begriffe und sanft wie Mondschein.
Ich schrieb ihr ein Gedicht ins Album, einen kühnen extravaganten
Erstling, sie zeigte es ihrer Mutter, und diese warnte ihr Töchterchen
vor mir, wir mußten beide herzlich lachen. O wie süß mutete mich
der anmutvolle Ritterdienst an. Wir wohnten vier Treppen.
Hatte nun vielleicht Johanna, schon unten an der Haustüre stehend,
ihren Schirm oder ihr Taschentuch oder sonst etwas vergessen, so
erhielt ich den Auftrag, hinaufzuspringen und das Liegengelassene
zu holen. Wie machte mich das glücklich, und wie süß, wie schön,
wie zart lächelte sie darüber. Ihre Hände waren üppig und weich
und so weiß wie Schnee, und der Kuß darauf, wie berauschte, wie
bezauberte er mich. Senn war wütend auf uns, weil wir bis in

alle Nacht hinein auf Johannas Zimmer miteinander Englisch
lernten. Er hörte wohl durch die Wand, was das für eine kosende,
belustigende Art von Englisch war, das wir trieben. Holde, unver-
geßliche Sprachstunde, liebes unvergeßliches weibliches Wesen.
Robert Walser.
(^ritz Schnack,
ein junger Lyriker, veröffentlicht im Ianus-Verlag, Mün-
chen, ein kleines Heft erster Verse, „herauf, uralter Tag!" In
einem erschreckenden Maße nimmt die Zahl der Literaten zu, die
ihrem Hirn mühselig Reflexionen und unwahrhaftige Eindrücke
abquälen und sie in konventionellen, sprachlich ungefühlten Rhyth-
men versifizieren: mit um so größerer Freude ist die lichte Vita-
lität dieses geborenen Lyrikers zu begrüßen.
Man hört gelegentlich den Ton Johann Christian Günthers,
jenes früh verstorbenen Stürmers von 1700:
„Herauf! Heraus! Zerbrich, erstarrte Nacht, in Scherben,
Denn deine dunklen Stunden schufen mich!"
oder:
„Ich lege dir den Kranz der neuen Taten auf!"
und ein Klang ausen Dauthendeys verliebten Landschaftsgesängen:
„Alle schönen Frauen der Wind umschlungen hält".
Aber Schnack besitzt eine ganz andere Sicherheit des künstlerischen
Taktes als Dauthcndey, dessen viele Herrlichkeiten in einem Wust
ungestalt-dilettantischer Reimerei verschüttet sind. Manche banale
Rhythmen und Wendungen laufen auch Schnack unter, aber sie
sind unwesentlich gegenüber der siegreichen Selbstverständlichkeit
seiner Aussprache. Seine Verse strömen aus einer natürlichen
Fülle, eine wahrhaft junge, naive Glücklichkeit und Gläubigkeit
jubelt sich aus. Überall Farben voll einer starken Helligkeit: der
„funkengoldne Schlag", „grüngoldnes Licht zuckt über die weißen
Wände", inmitten der grauen Landschaft glänzt eine „Lichtinsel"
im Ackerfeld. Er uralt das Land nach einer Regennacht: der weiße
Nebel ist von Licht durchblitzt, „die Furchen sind von goldnem
Pflug geritzt", „der Kübel steigt, der Silberstürze bringt", „die Tauben
strahlen an der Dächer Rand", „Licht glänzt wie Stahl in jedem
Wagengleis": Licht glänzt wie Stahl auf jedem Wort und Satz.
 
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