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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Soellen, Ludwig: Die alte und die neue Naturphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0490

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Die alte und die neue Naturphilosophie.

sein; vielmehr wird eine Synthese beider das zu for-
dernde Ziel: die neue Naturphilosophie hat zur Grund-
lage die gesamten Ergebnisse der Naturforschung und
deren heute feststehende Methoden; aber sie wird nur
zur Vollendung gelangen, indem sie die vom Idealis-
mus geleistete Denkarbeit ausnutzt und den veränderten
Bedingungen anpaßt. Dieser Forderung gegenüber
steht der Hinweis, daß im Gegensatz zur alten Natur-
philosophie die neue mit den Fortschritten der Natur-
wissenschaften ebenfalls fortschreiten müsse, eine Not-
wendigkeit, der die konstruktive Art der alten nicht ge-
recht geworden sei, noch hätte gerecht werden können.
Demnach könne die Naturphilosophie kein geschlossenes
System sein. Eine solche Folgerung ist nicht stichhaltig.
Die Veränderung der zu systematisierenden Grundsätze
mit dem Fortschreiten der Naturerkenntnis ist keine Ver-
änderung der allgemeinen Grundbestimmungen, die
den Begriff einer Natur ausmachen, sondern vielmehr
eine Absonderung derselben bei ihrer Anwendung.
Daher ist allerdings aus jenen allgemeinen Grund-
bestimmungen und vermöge derselben ein geschlossenes
System als möglich zu denken, d. h. zu fordern, und die
faktische Veränderlichkeit seiner Glieder findet innerhalb
der philosophischen Sphäre ihr methodisches Äquivalent
an der Relativität, oder, sagen wir, an dem Fortschreiten
der Philosophie selber.
*
Nun wären wir auch imstande, nebenher die Energe-
tik Ostwalds zu prüfen, insofern sie die Grundlage
einer Weltanschauung bilden soll. Sie will Natur-
philosophie sein. Entspricht sie also den Anforderungen
an eine solche? Das ist die entscheidende Frage. In der
Naturwissenschaft hat sich der Satz von der Erhaltung
der Energie als ein Ordnungsprinzip ersten Ranges
ergeben und bewährt. Energie ist Arbeitswert,
ist also eine bestimmte mathematische Beziehung zwischen
den mechanisch-begrifflichen Faktoren der naturwissen-
schaftlichen Gegenstände. Der Satz von der Erhaltung
der Energie spricht eine konstante Größenbeziehung
zwischen den derart gedeuteten Erscheinungen aus, und
zwar so — das ist sein hervorragender Wert — daß
damit die Gegenstände der umfassenden Einheit des
Naturbegriffes eingeordnet werden: in der Natur,
sagt er, bleibt die Summe der Energie dieselbe, und alles
Naturgeschehen ist nur eine Umwandlung von Energie-
formen ineinander. Bei näherem Zusehen ergibt sich,
daß damit die beharrende Einheit des Kausalzusammen-
hanges der Natur ausgesprochen wird; das Energie-
prinzip ist tatsächlich ein dem heutigen hohen Stande
der Naturforschung entstammender und angemessener
Ausdruck dieses wichtigsten Grundsatzes, der Kausalität.
Und so hängt denn das Energieprinzip durchaus zu-
sammen mit allen übrigen von der Wissenschaft voraus-
zusetzenden und sie konstituierenden Begriffen und Grund-
sätzen; es gehört in deren System als Bestandteil hinein.
Seine durchgängige Verwendung bringt der Wissen-
schaft den Vorteil, daß ihr oberstes methodisches Prinzip,
die Einheit des Naturbegriffes, die Forschung offen
systematisiert; es bringt in die Wissenschaft einen hohen

Grad von methodischer Reinheit. Was macht nun der
„Monismus" aus diesem schönen, zwar nicht wahrnehm-
baren, aber vorauszusetzenden Ariom? Er macht daraus
eine metaphysische Substanz. Das Energiegesetz wird
zum ursprünglichen Schöpfer und Lenker Himmels
und der Erde, aus ihm wird das ganze Universum mit
allen materiellen und geistigen Sphären geboren; es
ist das oberste Prinzip überhaupt, für das sonst wohl
die Menschen den Namen Gott hatten, oder das sie das
Absolute nannten.
Die Energetik Ostwalds liefert so das für jeden
Materialismus typische Bild einer Verwischung der
Grenzen zwischen naturwissenschaftlicher und philo-
sophischer Erkenntnis»?eise, einer Übertragung der na-
turwissenschaftlichen in diejenige Sphäre des Erkennens,
die eben wegen ihrer Methoden- und Aufgabenbesonder-
heit Philosophie heißt. Die Sphäre der Naturphilo-
sophie entsteht in der Reflexion auf das Naturerkennen
und hat dieses zum Objekt; in ihr herrscht die Einheit
des Wissens überhaupt als Prinzip, während im Natur-
erkennen die Einheit der Natur als Begriff das oberste
Prinzip ist. So ist auch das Energieprinzip, der heutige
Ausdruck dieser Natureinheit, Objekt der Philosophie,
es kann daher nicht selber ihr Prinzip sein, zu dem es der
„Monismus" ausersehen hat; es kann daher auch keine
Weltanschauung begründen. Zur Philosophie gehört
auch heute noch eine Erhebung in die Sphäre des
Geistes, in die intelligible Welt, und Kultur ist, auch
heute noch, nicht Natur. Das Energiegesetz als Einheits-
prinzip gehört nur der Sphäre der Naturerkenntnis an,
und es kann daher nur ein Glied in einem übergreifenden
System der Philosophie oder des Wissens überhaupt
sein. Die Naturphilosophie Ostwalds leidet an dem
Grundübel, daß sie keine Naturphilosophie ist: sie kennt
und löst nicht die Aufgabe einer solchen, ein System der
Grundsätze der Naturwissenschaft aus einem übergeord-
neten Prinzip zu begründen. Indem sie einen Grund-
satz willkürlich substanzialisiert, konstruiert sie aus ihm
heraus eine Scheinwelt, die der Erfahrung widerspricht,
und zwar aller intelligiblen Erfahrung, die doch auch
wohl da ist und die Sinnenwelt in sich befaßt und sich
unterordnet. Schelling sagte: Natur ist Vernunft;
Ostwald sagt: Vernunft ist Natur — und spricht dann
stolz die Hoffnung auf eine Zukunftsphilosophie von
Gnaden der Energie aus, der gegenüber die früheren
philosophischen Systeme wie die primitiven Vorstellungen
barbarischer Urväterzeiten anmuten würden. Er hält
seine „Philosophie" nicht für Materialismus, ja, er be-
kämpft den Materialismus, weil Energie nicht Materie
ist: das zeugt von seiner rührenden Verständnislosigkeit
für die philosophische Forschung, die sich in jedem Satz
dokumentiert, den er über Philosophie schreibt. Er hält
sich an das Wort „Materie" und weiß nicht, daß Ma-
terialismus eine Lehre ist, die, wie seine eigene, das Sein
der Natur zum Systemprinzip erhebt. Für die Natur-
wissenschaft ist es ein berechtigtes und Antwort hei-
schendes Problem, ob das Atom oder, mit anderen
Worten, die mechanische Auffassung durch den Energie-
begriff ersetzt werden solle; für die Philosophie sind
Atome und Energie gleichwertig, wenn sie als das
„wirkliche" Sein genommen werden — was sie beide

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