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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Halm, August Otto: Leitmotiv und Sonatenform
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0214

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Leitmotiv und Sonatenform.
den umgeschaltet hatte, der eben auch für die musikalische
Technik Wagners, ja für sie vor allem, ein Ohr hatte.
Wer dagegen bereit ist, alles über sich ergehen zu lassen,
soweit er nur immer mit dem poetischen Erklären des
musikalischen Geschehens, als eines rein illustrativen
Faktors, zurecht kommt, dem sind diese Tugenden ver-
schlossen. Nur wer imstand ist, sich gegen Stillosigkeit zu
wehren, ist auch imstand, Stilgefühl zu genießen; Wille,
natürliche Anlage und erworbene Fähigkeit zur Kritik
sind nicht etwa Feinde, sondern Freunde und Helfer des
Kunstgenusses. Wo sie ihn: je feindlich zu sein scheinen,
da ist entweder die Kritik oder das Kunstwerk unzulänglich.
Überlegen wir aber doch noch, ob es poetisch nötig
war, daß uns der Anfang des Walhallthemas über
Wolfes oder Wälses Identität mit Wotan aufklärt. Der
Zuhörer erhält später darüber Bescheid durch den Dialog
der Fricka und des Wotan — wofern nämlich der, mit
jeder Aufführung, die er hört, stets wieder von neuem
unwissende Zuhörer fingiert wird. Und das Geschwister-
paar weiß ja weder vorher noch nachher, wer Wolfe oder
Wälse ist, so daß die Musik hier den Zuhörer nicht mehr mit
den handelnden Personen verbindet, sondern mit irgend
einem, der es besser weiß und sich des Themas bedient,
um den Zuhörer zu belehren. Das ist, selbst wenn man
die Vorstellung des Entschwindens Wälses und seines
Entrücktwerdens in die heimatliche Götterwelt als eine
Schönheit dem Thema hier verdanken will, kein so
großer Gewinn, wie es der Umstand ist, daß von da ab
dieses Thema als ein Faktor der künstlerischen Rechnung
in unser Bewußtsein eintritt. Nehmen wir aber noch
zwei andere Fälle von Wiederkehren, deren einer poetisch
neutral, deren anderer aber poetisch sogar schädlich ist.
Die Rheintochter hatte verkündet: „der Welt Erbe
gewänne zu eigen, wer aus dem Rheingold schüfe den
Ring, der maßlose Macht ihm verlieh". Das hat in
Alberichs Seele Wurzel geschlagen, und es ist natür-
lich, daß er sich den Spruch wiederholt. Für gewöhnlich
folgt nun solches Wiederholen des Gehörten dem ersten
Hören ziemlich rasch (in diesem Fall ist das Beiseite-,
nut halber Stimme sprechen das übliche). 'Wagner
trennt Spruch und Nachspruch, und so kommt eine musi-
kalische Wiederkehr, anstatt der Wiederholung, zustand.
Fafner berät den Fasolt darüber, weshalb sie die
Freia den Göttern entführen müssen, auf was es dabei
ankomme; später erklärt Loge den Göttern, was die
Riesen ihnen antaten. Die gute Wirkung dieser musika-
lischen Wiederkehr läßt uns vergessen, daß der Dichter
hier einen Fehler gemacht hat. Die Dummheit der
Götter noch stupender zu machen als sie ohnehin schon
ist, kann nicht seine Absicht gewesen sein; dem Zuhörer
zweimal dasselbe vorzusagen, ebenfalls nicht, und dem
Kollaps der Götter, der Eröffnung des Loge, nimmt es
einiges von Wirkung, daß das Unheil schon von dem
Riesen vorausberechnet war. Aber das Musikalische hat
hier das Herrenrecht; wie stark es herrscht, können wir
daran ersehen, daß dieser Fehler, der dem Wortdrama-
tiker unverzeihbar wäre, im Musikdrama keinen wirk-
lichen Schaden anrichtet.
Loge erzählt in der zweiten Szene des Rheingold
von Alberich und den Rheintöchtern. Ist schon an sich
das erklärende E zählen im Drama gefährlich, so wäre

es hier noch mißlicher, da wir nun erzählt hören, was
sich ja soeben vor unfern Augen abgespielt hat: wenn
nicht wiederum die Musik das Geschehen führte und unser
künstlerisches Auffassen leitete, und das so sicher als un-
merklich — denn wie hätte sonst die Meinung, die Musik
sei die untergeordnete Kunst im Musikdrama, sich so
verbreiten können?
Daß die sogenannte Verwandlungsmusik vor der
zweiten Szene ein Gegenstück und ein korrespondierender
Wert zum Vorspiel, also eine Wiederkehr im weiteren
Sinn, eben dem allgemeinen Charakter nach, ergibt, ist
ohne weiteres fühlbar; des näheren aber ist wohl zu
beachten, daß hier das eine Urprinzip der Musik, die
Tonleiter, ebenso herrscht wie dort das andere, der Drei-
klang; daß ferner, wie die Tonleiter gegen das Ende des
Vorspiels, so die aufsteigende Harmonie zum Schluß
der Verwandlungsmusik eine Rolle spielt; und daß
zuletzt das langgehaltene tiefe M des Basses an den
ersten Anfang des Vorspiels bedeutsam erinnert. Ist
die Folge im Schema des letzteren a d o, so ist die beim
Gegenstück o d a.
Endlich krönt Wagner sein Verhalten zu diesem
musikalischen Prinzip durch die Wiederkehr des Gesangs
der Rheintöchter zum Beschluß des ganzen Werks, und
vollends durch die auffallende Ähnlichkeit der letzten
15 Takte mit dem Vorspiel, an dessen Thema nun das
„Schwertmotiv" so angenähert wird, daß wir eine ge-
rneinsame Variante beider Themen zu hören glauben.
II.
Die Begleitmusik zu der Jagd des Alberich auf die
Rheintöchter, vor den Worten: „Fieng eine diese Faust!"
dürfen wir einen Durchführungsteil nennen; sie hat
sowohl als eine Revue über die bisherigen Hauptthemen
wie auch in ihrer Struktur die Züge von manchen Durch-
führungen in Beethovens Werken. In der erstgenannten
Eigenschaft ist ihr Wert, ihre Notwendigkeit sehr ein-
leuchtend, — es galt ein Überblicken und Zusammen-
fassen, ehe das neue, das große Ereignis eintritt, und
auch damit dieses um so neuer und größer erscheine. Die
Jagd des Alberich hätte der Wortdramatiker nicht so vor-
führen dürfen; sie hätte wie eine Ballett-Einlage ge-
wirkt; wiederum liegt es zum mindesten nahe, zu denken,
daß Wagner nach musikalischen Bedürfnissen den Stoff,
die Handlung gestaltet hat, und nur erst einmal den Blick
auf diese Möglichkeit gerichtet: so entdecken wir mehr
und mehr, wie ganze Zusammenhänge hienach organi-
siert, wie Längen- und Gewichtsverhältnisse nicht vom
Tert, nicht von der Handlung herstammen, sondern dem
Leben und Lebenswillen der Musik zu Dienst gestellt
wurden. Die erste Szene, ein großer Teil auch der
dritten und vierten Szene des Rheingold, ist eine große
Konzeption von musikalischer Form.
Es sei noch das Nachspiel der zweiten, zugleich Vor-
spiel zur dritten Szene erwähnt. Als Verwandlungs-
musik ist solches nur oberflächlich bezeichnet. Es ist eine
Durchführung, diesmal von gewaltig steigerndem Cha-
rakter, in der Methode ein Vorbild einer gewissen Art
von Steigerungen bei Bruckner, ein grandioses Gebilde
für sich und als Vorbild voller Keimkraft.
August Halm.

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