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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Lissauer, Ernst: Zu Goethes Tagebüchern
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0256

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Zu Goethes Tagebüchern.

Briefe, Gespräche und der Aufzeichnungen von andrer
Hand einige oder auch nur einen Tag Goethes von
Stundenteil zu Stundenteil verfolgen könnten: nicht
aus einem sentimentalen Kultus heraus, sondern in
den: Bewußtsein, daß Goethes Erifienz, das Wort in
einein ganz realen und ganz praktischen Sinne genommen,
vorbildlich ist. Der Goethe, den wir in der Schule
erfahren, ist ein unwirkliches Wesen, ein „Klassiker",
der „Gesammelte Werke" geschrieben hat. Von der
Vorstellung der Biedermeierschen „Literaturballade" ist
der Eindruck des Gymnasiasten nicht weit entfernt.
Der Schul-Goethe ist nicht ein lebendiger Mensch von
ungeheuren Talenten, nicht ein dumpfbrausendes Wesen,
das sich in Zucht nimmt und eine heroische Persönlich-
keit wird, er ist überhaupt nicht ein Individuum mit
Venen, Poren und Zellen, sondern eine gipserne Büste,
deren Schriften die „Lektüre" der höheren Klassen
bilden und Anlässe zu Klassenaufsätzen sind. Es wäre
zu denken, daß ein gescheiter Lehrer an Hand Goethescher
Briefe und dieser Tagebücher den Jungen zeigte, wie
er gewesen sei und gewirkt habe, ohne andere literarische,
ästhetische und historische Zutaten als die nötigsten,
und nur zur Erläuterung des Zusammenhanges, nicht
als Wissensstoff. Vielleicht aber ist dieser Goethe erst der
Goethe der reiferen Menschen, der Goethe für Dreißiger,
und man muß ihn sich durch Reifung selbst gewinnen.
Der bekannte Vers:
„Ihrer sechzig hat die Stunde,
Über tausend hat der Tag,
Söhnchen, werde dir die Kunde,
Was man alles leisten mag,"
erlangt eine doppelte Kraft durch die Stelle, an die
er zuerst geschrieben ward. Im Ausstellungsräume
des Weimarer Archivs war das Stammbuch des Enkels
aufgeschlagen, da stand er unter einer sentimentalen
Phrase, die Frau von Spiegel eingetragen hatte, lind
die hieß ungefähr: „Eine Minute hat der Mensch zu
leben; eine halbe weint er, eine halbe liebt er, und
während dieser stirbt er."
Goethes tätige Natur stand gegen dieses unfrucht-
bare poetische Geschwätz auf, und er gab seinen Spruch
dein Enkel, um die Wirkung aufzuheben; so gefährlich
dünkte ihn diese Betrachtung des Daseins. Es klingt wie
ein Jubel: „Ihrer sechzig hat die Stunde, ihrer tausend
hat der Tag"; jede Minute ist ein Ar Zeit; man gedenkt
des Reimspruchs:
„Mein Eigen, wie köstlich weit und breit.
Die Zeit ist mein Besitz; mein Acker ist die Zeit."
Und wie die Bauern in Süddeutschland rechnet er nach
Tagwerk.
Am 31. August 1778, im Gartenhäuschen, notierte
er: „Wundersam Gefühl vom Eintritt ins dreißigste
Jahr. Und Veränderung mancher Gesichtspunkte^'.
Am 26. März 1780 ebenda am Ende einer längeren
Betrachtung über Wirrnis und geheime Ordnung
seines Schicksals: „Ich muß noch herauskriegen, in
welcher Zeit und Ordnung ich mich um mich selbst
bewege." Am 26. August des gleichen Jahres, wieder
dort: „Früh im Garten auf und ab und nachgedacht,
was in diesem meinem zu Ende gehenden 31. Jahr
geschehen und nicht geschehen sei. Was ich zustande

gebracht. Worin ich zugenommen pp." Zwei Tage
später: „Früh im Stern spazierend überlegt, wo und
an welchen Ecken es mir noch fehlt. Was ich dies Jahr
nicht getan. Nicht zustande gebracht. Uber gewisse
Dinge mich so klar als möglich gemacht." Ende 1781,
abermals im Gartenhäuschen: „Täglich mehr Ordnung,
Bestimmtheit und Konsequenz in allem." An diesen
und anderen Vermerken kann man förmlich in Daten
ablesen, was die Briefe und Werke als eine langsame
Entwicklung darstellen: „das dumpfe Individuum" —
wie der greise Goethe sich gelegentlich rückdenkend
nennt, — wird klar. Und es klärt sich nicht nur gleichsam
meteorologisch wie eine Landschaft, sondern bewußt
und wollend. Ein Mittel dieser klärenden Arbeit an
sich selbst waren seine Tagebücher.
Hebbel äußert einmal, daß der wahre Dichter auch
auf einer wüsten Insel dichten würde. Goethe sagt:
„Ich würde in dem geringsten Dorfe oder auf einer
wüsten Insel ebenso betriebsam sein müssen, um nur zu
leben"; Goethe war selbst „der tätige, tüchtige Mann",
den er allerorten rühmt, in monumentalem Format.
Er will nicht, wie Michel Angelo oder Beethoven, ein
Werk, sondern sein Leben ist sein Werk: er will „die
Pyramide seines Daseins möglichst hoch emporspitzen".
Wenn Goethe in den Werken, Gesprächen und Briefen
als der große Baukünstler erscheint, der die Pyramide
konzipiert, entwirft und in großen Linien ausführt,
so erscheint er irr den Tagebüchern als der Maurer-
meister, der das Handwerkliche überwacht und anleitet.
Diese Tagebücher sind ja auch eine Art von schrift-
stellerischer Leistung, aber ihre einzelnen Vermerke sind
Rohstoff, nur obenhin zubereitet, und erlangen Form
erst im Gefüge des Ganzen: die Tagebücher sind die
Mauersteine jener Pyramide, wie sie sich uns Nach-
fahren darstellt.
Man denkt an Wilhelm Raabes Wert von der Kanne,
die neben dem Tintenfaß der deutschen Dichter steht.
Es fehlt nicht an pedantischen Einschlägen in der Akkura-
tesse dieses Lebens; Jakob Julius David hat sie in
dem Essay „von den großen Philistern" hervorgehoben.
Aber die Totalität dieser Eristenz ist gar nicht pedantisch;
Monumentalität und Philistertum schließen sich aus.
Das sich darbietende Apercu: „Der Philister in monu-
mentalem Format" ist in sich unmöglich. Auch unsrer
Zeit noch sitzt, gerade weil sie zum Dichter und zur
Dichtung kein unmittelbares Verhältnis hat, die Vor-
stellung im Blute, daß der Dichter ein Abenteurer,
ein Fahrender, ein Irrlicht und Schwärmer sein müsse;
wir verwechseln immer noch das Genialische und das
Geniale. Der Dichter, des „Auch in schönem Wahnsinn
rollet", ist für uns immer noch der Dichter; möchten
wir doch endlich über die beiden Typen, den spieß-
bürgerlichen Literaturverschleißer, der selbst nur Pu-
blikum ist, und den Dichter mit dem Kainszeichen, den
Dichter erkennen als die große Abelnatur, welche ihre
Opfer darbringt, „und der Herr sah gnädiglich an Abel
und sein Opfer". Das heißt auf Goethisch: „Wie sich
Verdienst und Glück verketten" oder: „Bist also fort
und immerfort gediehn".

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