Das Wiedersehen.
Dämmerung darüber, und die Gruppe war nur noch
ein großes Tier in Bewegung, das dick am Ufer klebte
und sich mit Lärm und Rhythmus weiter schob.
Ein Schlag, herb und plötzlich, wie vom Abfeuern
einer Pistole, fuhr wider die Betons der Brücke. Wolf-
gang sprang zurück und streckte die Hand vor. Eine rote
Kugel erschien. Ein breiter Lastkahn drängte nach,
Noch ein Licht am Heck! . . . Viele Lichter waren nun
da. Auch die Stadt löste sich wie ein Vogel, der sich
spreitet, aus der Überraschung des Abends und leuchtete
matt.
Wolfgang zitterte entsetzlich. Er preßte das Knie
gegen die Steinmauer und zwang die Beinmuskeln
in eine straffe Parade. Doch das Zucken nahm ihn,
warf sich in ihm herum und hieb die Nerven an wie
der Sturm die Telegraphendrähte.
Es ging etwas aus ihm weg. Ein süßes Neues
stieg in ihm herum wie mit Leuchten und Laternen.
Wolfgang legte die Stirn auf die Wand: Angelika —
O! Die Wellen waren verstört angelaufen in ihrer
letzten Nacht. Manchmal war es ganz still geworden.
Dann klopfte, sprang, raste es wieder und johlte von
neuem. Angelikas Arm war ganz blau. Der Arzt hatte
ihn mit einem Netztau an die Decke gebunden. Fünf
Tage lang stand der Arm in dem Zimmer, in das der
Wind schlug. In die Nächte glomm er wie eine Kerze,
dann wie eine Fackel, ganz spät erst wurde er gerüttelt
und trug eine Faust. Der Arzt war zweimal dagewesen.
Er mußte weiter in die anderen Dörfer, wo die Wöch-
nerinnen schrieen und jammerten, daß der Strand des
Fjord mit einer Welle von Schmerzensrufen der Bran-
dung entgegensprang. Fast alle Kinder an den Schären
kamen um dieselbe Zeit auf die Welt. Der Arzt hatte
gesagt: Ich bin halb tot, aber er war es schon zu Drei-
vierteln.
Angelikas Schmerzen waren eine Krise hinauf-
gelaufen. Sie brüllte aus ihrer kleinen zarten Kehle,
in der die Lieder von Hugo Wolf noch weich schliefen, —
sie schlug mit ihren Schreien Nisse in die Nacht zum
Morgen hin, zu dem sie doch nicht kam. Aber dann
legte sie sich hin und hatte nur noch ein paar Augen in
der Stille ihrer Glieder, die unwahrscheinlich licht und
frei auf ihm lagen.
Es wurde ihm fast bang. Und das Schluchzen, das
seine Kehle versperrte, quälte ihn so, daß er grundlos
auflachte. Heina war ins Dunkel hinaus verschwunden.
Es war ihm zu viel geworden. Er dachte an seine drei
roten Kinder. Wie Kähne hatten sie aneinandergelegen,
eines neben dem andern.
Wolfgang hatte Angelikas einzige Hand genommen
und in seinen Ärmel gelegt. Mit seinen hastigen Fingern
fuhr er ganz zärtlich über die Handgelenke, wo die
Haut rot war um den ausbrechenden Knöchel.
„O Angelika," sagte er.
„Lieber, du sollst mich nicht trösten wollen" . . .
ihre Lippen spalteten sich kaum. Wie ein leichter Hauch
kamen die Worte aus dem Mund.
Nur nicht weinen müssen! ... Nicht weinen
müssen!
„O Angelika."
Draußen rang das Meer um die Küste der Klippen.
Peitschende Töne flogen die Küste herauf.
Hinausgehen können, wie Heina . . . mit der Flut
schreien wie mit einem Feind-
„Es geht besser, Angelika." Wie mild seine Stimme
war.
Sie bewegte kein Glied. Allein die Augen schlugen
sich nach der anderen Seite, daß er nur Weiß sah und
die Iris in die andere Ecke rollte. Sie sah nach ihrem
Arm. Ihr Arm hing mit einem Fischnetz an die Decke
geschnürt, blau und aufgeschwollen.
Nicht weinen . . . immer mit der Hand über den
Knöchel fahren, „Angelika" sagen! —
Sie legte mühsam aber lieblich den Kopf ein klein
wenig nach ihm und flüsterte: „Wolfgang, du sollst
meine Hand auf deinen Mund legen!"
Da legte er ihre Hand auf seinen Mund und weinte
jäh und wild. Als er ruhiger war, sagte sie: „Nicht. . .
nicht traurig sein ... du Lieber. Es ist bald . . . vor-
bei. Nicht traurig" . . .
Eine Locke lag über ihrer Schläfe. Wolfgang fiel
es auf. Grundlos. Es war eine Locke.
Es wäre feig gewesen. — Er hätte nicht wider-
sprechen können. Nein, niemals hätte er lügen können
gegen diese Stimme.
Er sah vorbei an ihr und viele Tränen kamen wieder
über seine Augen und er sagte, während die Stimme
ihn: linde auf- und abschwoll: „Daß es nicht dort sein
konnte — wenn es doch einmal kommen mußte —
Angelika, wo du die weißen Kleider immer trugst am
Abend. Weißt du noch, wie ich dir die Beine mit Orangen-
zweigen zuband, Angelika?"
Ein Lächeln kam auf ihr Gesicht. Da brach er los:
„Daß es nicht sein konnte an deinem Meer mit den
blauen Spiegeln, mit den vielen Flecken auf der Haut,
die sich immer bewegt, Angelika . . . Ich kann nicht
. . . es ist meine Schuld ... ich durfte nicht . . .
nein ... es ist meine Schuld. Warum nahm ich dich
mit an das rauhe Meer, das dir Furcht macht, kleine
Angelika? Warum ließ ich dich mitgehn an die Schären,
die du haßt? Nein ... du... es ist meine Schuld.
— Bleib, Angelika!"
Da hatte es ein paarmal über ihr Gesicht geleuchtet
und sie hatte das Seltsame gesagt: „Ich werde zu dir
kommen, Wolfgang, wenn wieder Sommer ist . . . wo
viel, viel Sonne ist, werde ich zu dir kommen."
„Ich will immer warten," sagte er.
Sie sah auf ihn. Unbestimmt lief ihr Auge uni ihn
herum, als suche sie etwas Festes. Sie schien verwirrt.
Sie hob sich ein wenig. Ihr Auge suchte an seinen
Händen. Es glitt über sein Gesicht und sog an seinem
Auge.
Dann zwang sie ihre Unruhe, schüttelte schwach
den Kopf und sagte fest: „In einem Jahr, Wolf-
gang" . . .
Es gab noch eine furchtbare Schlacht.
Als Wolfgang dann hinausgetreten war, hatten die
Wellen unschuldig mit einem ruderlosen Kahn zwischen
den Klippen gespielt und über dem dunklen Wasser
war eine Dämmerung aufgebrochen mit einer schwülen
boshaften Röte aus Herbstlaub und Zinnober.
Alle die dumpfen Tage und Wochen, alle die dumpfen
Tage und Wochen und Monate hatte er nur gedacht:
„In einem Jahr" . . .
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Dämmerung darüber, und die Gruppe war nur noch
ein großes Tier in Bewegung, das dick am Ufer klebte
und sich mit Lärm und Rhythmus weiter schob.
Ein Schlag, herb und plötzlich, wie vom Abfeuern
einer Pistole, fuhr wider die Betons der Brücke. Wolf-
gang sprang zurück und streckte die Hand vor. Eine rote
Kugel erschien. Ein breiter Lastkahn drängte nach,
Noch ein Licht am Heck! . . . Viele Lichter waren nun
da. Auch die Stadt löste sich wie ein Vogel, der sich
spreitet, aus der Überraschung des Abends und leuchtete
matt.
Wolfgang zitterte entsetzlich. Er preßte das Knie
gegen die Steinmauer und zwang die Beinmuskeln
in eine straffe Parade. Doch das Zucken nahm ihn,
warf sich in ihm herum und hieb die Nerven an wie
der Sturm die Telegraphendrähte.
Es ging etwas aus ihm weg. Ein süßes Neues
stieg in ihm herum wie mit Leuchten und Laternen.
Wolfgang legte die Stirn auf die Wand: Angelika —
O! Die Wellen waren verstört angelaufen in ihrer
letzten Nacht. Manchmal war es ganz still geworden.
Dann klopfte, sprang, raste es wieder und johlte von
neuem. Angelikas Arm war ganz blau. Der Arzt hatte
ihn mit einem Netztau an die Decke gebunden. Fünf
Tage lang stand der Arm in dem Zimmer, in das der
Wind schlug. In die Nächte glomm er wie eine Kerze,
dann wie eine Fackel, ganz spät erst wurde er gerüttelt
und trug eine Faust. Der Arzt war zweimal dagewesen.
Er mußte weiter in die anderen Dörfer, wo die Wöch-
nerinnen schrieen und jammerten, daß der Strand des
Fjord mit einer Welle von Schmerzensrufen der Bran-
dung entgegensprang. Fast alle Kinder an den Schären
kamen um dieselbe Zeit auf die Welt. Der Arzt hatte
gesagt: Ich bin halb tot, aber er war es schon zu Drei-
vierteln.
Angelikas Schmerzen waren eine Krise hinauf-
gelaufen. Sie brüllte aus ihrer kleinen zarten Kehle,
in der die Lieder von Hugo Wolf noch weich schliefen, —
sie schlug mit ihren Schreien Nisse in die Nacht zum
Morgen hin, zu dem sie doch nicht kam. Aber dann
legte sie sich hin und hatte nur noch ein paar Augen in
der Stille ihrer Glieder, die unwahrscheinlich licht und
frei auf ihm lagen.
Es wurde ihm fast bang. Und das Schluchzen, das
seine Kehle versperrte, quälte ihn so, daß er grundlos
auflachte. Heina war ins Dunkel hinaus verschwunden.
Es war ihm zu viel geworden. Er dachte an seine drei
roten Kinder. Wie Kähne hatten sie aneinandergelegen,
eines neben dem andern.
Wolfgang hatte Angelikas einzige Hand genommen
und in seinen Ärmel gelegt. Mit seinen hastigen Fingern
fuhr er ganz zärtlich über die Handgelenke, wo die
Haut rot war um den ausbrechenden Knöchel.
„O Angelika," sagte er.
„Lieber, du sollst mich nicht trösten wollen" . . .
ihre Lippen spalteten sich kaum. Wie ein leichter Hauch
kamen die Worte aus dem Mund.
Nur nicht weinen müssen! ... Nicht weinen
müssen!
„O Angelika."
Draußen rang das Meer um die Küste der Klippen.
Peitschende Töne flogen die Küste herauf.
Hinausgehen können, wie Heina . . . mit der Flut
schreien wie mit einem Feind-
„Es geht besser, Angelika." Wie mild seine Stimme
war.
Sie bewegte kein Glied. Allein die Augen schlugen
sich nach der anderen Seite, daß er nur Weiß sah und
die Iris in die andere Ecke rollte. Sie sah nach ihrem
Arm. Ihr Arm hing mit einem Fischnetz an die Decke
geschnürt, blau und aufgeschwollen.
Nicht weinen . . . immer mit der Hand über den
Knöchel fahren, „Angelika" sagen! —
Sie legte mühsam aber lieblich den Kopf ein klein
wenig nach ihm und flüsterte: „Wolfgang, du sollst
meine Hand auf deinen Mund legen!"
Da legte er ihre Hand auf seinen Mund und weinte
jäh und wild. Als er ruhiger war, sagte sie: „Nicht. . .
nicht traurig sein ... du Lieber. Es ist bald . . . vor-
bei. Nicht traurig" . . .
Eine Locke lag über ihrer Schläfe. Wolfgang fiel
es auf. Grundlos. Es war eine Locke.
Es wäre feig gewesen. — Er hätte nicht wider-
sprechen können. Nein, niemals hätte er lügen können
gegen diese Stimme.
Er sah vorbei an ihr und viele Tränen kamen wieder
über seine Augen und er sagte, während die Stimme
ihn: linde auf- und abschwoll: „Daß es nicht dort sein
konnte — wenn es doch einmal kommen mußte —
Angelika, wo du die weißen Kleider immer trugst am
Abend. Weißt du noch, wie ich dir die Beine mit Orangen-
zweigen zuband, Angelika?"
Ein Lächeln kam auf ihr Gesicht. Da brach er los:
„Daß es nicht sein konnte an deinem Meer mit den
blauen Spiegeln, mit den vielen Flecken auf der Haut,
die sich immer bewegt, Angelika . . . Ich kann nicht
. . . es ist meine Schuld ... ich durfte nicht . . .
nein ... es ist meine Schuld. Warum nahm ich dich
mit an das rauhe Meer, das dir Furcht macht, kleine
Angelika? Warum ließ ich dich mitgehn an die Schären,
die du haßt? Nein ... du... es ist meine Schuld.
— Bleib, Angelika!"
Da hatte es ein paarmal über ihr Gesicht geleuchtet
und sie hatte das Seltsame gesagt: „Ich werde zu dir
kommen, Wolfgang, wenn wieder Sommer ist . . . wo
viel, viel Sonne ist, werde ich zu dir kommen."
„Ich will immer warten," sagte er.
Sie sah auf ihn. Unbestimmt lief ihr Auge uni ihn
herum, als suche sie etwas Festes. Sie schien verwirrt.
Sie hob sich ein wenig. Ihr Auge suchte an seinen
Händen. Es glitt über sein Gesicht und sog an seinem
Auge.
Dann zwang sie ihre Unruhe, schüttelte schwach
den Kopf und sagte fest: „In einem Jahr, Wolf-
gang" . . .
Es gab noch eine furchtbare Schlacht.
Als Wolfgang dann hinausgetreten war, hatten die
Wellen unschuldig mit einem ruderlosen Kahn zwischen
den Klippen gespielt und über dem dunklen Wasser
war eine Dämmerung aufgebrochen mit einer schwülen
boshaften Röte aus Herbstlaub und Zinnober.
Alle die dumpfen Tage und Wochen, alle die dumpfen
Tage und Wochen und Monate hatte er nur gedacht:
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