Schwester Mathild.
Sie wissen konnten, und um mich selber handelt es sich
schließlich auch.
Die Lippen des Mannes zitterten von diesen Worten,
die das lange Warten mühsam zurückgehalten hatte.
Er setzte sich den Hut auf den Kopf, nahm ihn wieder ab
und wischte seine Stirn mit der bloßen Hand; dann nahm
er das Taschentuch hervor und trocknete, gleichsam er-
staunt, den Hut auch von innen ab. Sie standen noch
unter der Straßenlaterne. Dem Ingenieur schien das
fahle, von dem Bart umrahmte Gesicht wie ein Stempel,
auf dem Sorge und Gram sich prägten, häßlich und
rührend zugleich.
Ich muß zum Bahnhof, sagte der Ingenieur. Wenn
Sie mich eine Strecke begleiten wollen, so stehe ich Ihnen
zur Verfügung, obgleich ich durchaus nicht sehe, was ich
für Sie tun kann.
Er ging weiter. Der Lange schritt neben ihm her
und sprach: Mathild Blum ist mein Mündel, sie ist das
Kind von armen Bauersleuten, die in der Nähe meiner
schwäbischen Vaterstadt eine kleine Mühle hatten. Der
Vater verunglückte, die Mutter ist ebenfalls früh ge-
storben, ich kannte die Eltern, Verwandte waren keine
da, ich sorgte, daß das Kind zu ordentlichen Leuten kam,
zuerst war sie noch in der Schule, dann in einer Stellung.
Ich dachte mir, ich würde sie dann heiraten, wenn ich
auch zwanzig Jahre älter bin. Hätt ichs nur getan!
Aber damals meinte ich noch, ich sei schon zu alt zum Hei-
raten, ich wollte ihr dafür wie ein Vater sein. Ich wurde
nach Berlin versetzt. Meine Base ist die Oberin in dem
Schwesternheim: ich sprach mit ihr, ob sie noch jemand
in die Anstalt aufnehmen könnte, so kam sie hin. Die
Mathild war glücklich darüber und ist nun schon seit zwei
Jahren da. Ich weiß nicht, was es ist, das Wesen dort
hat sie ganz verwandelt, ich habe es ihr schließlich gesagt,
daß ich rechten Undank von ihr erlebe. Da hat sie ge-
weint, und ich habe wohl einsehen müssen, sie ist so brav
und gut wie immer, aber eine andere ist sie doch ge-
worden. Es sind halt die frommen Ideen. Sie war auch
großjährig geworden, und warum hätte ich sie von dort
wegnehmen sollen, und wohin? Nun, seit ein paar
Wochen kommt die Rede auf, sie will zur Mission, nach
Afrika! Ich hab es ihr ausreden wollen, im Spaß und
im Ernst, es hat nichts gebattet. Seit dem Tag hab
ich keine ruhige Stunde mehr gehabt. Und heut nun,
als ich sie wieder einmal besuche und hoffe, sie redet nicht
mehr vom Weggehen, erfahre ich von der Verlobung.
Eine schöne Verlobung mit einem Mann, den man nie
gesehen hat. Mit einem in Afrika! Und wenns ein
Doktor ist und der Sohn vom Missionsinspektor selber, —
ein feines Gespinst ist das, eine Kuppelei, eine fromme
Kuppelei und weiter nichts! Und ich soll mich noch aus-
lachen lassen und mir erzählen lassen, daß das der Finger
Gottes ist, wenn sie mir jetzt davonfliegt, wie — wie
ein Schwan! Das hab ich nicht verdient. Nichts will
ich von ihr verlangen als nur, daß sie im Land bleibt,
wo ich nach ihr sehen kann und ein bißchen für sie sorgen.
Helfen Sie mir doch!
Sie waren in die Hauptstraße eingebogen. Das
Gerassel der Omnibusse und die Zahl der Lichter war
immer größer geworden; der Ingenieur konnte die
Klage des Mannes, der da an seiner Seite ging, nur noch
mit Mühe verstehen. Aber er sah ihn aufmerksam und
prüfend ins Gesicht. Ach, durch irgend einen Ausdruck,
der sich in die Miene des Schwarzbärtigen gemischt
hatte, erschien er ihm plötzlich wie ein belferndes,
altes Weib.
Wenn es doch noch mehr solcher Frauen gäbe, die
hinausgingen, sagte der Ingenieur da ganz laut und
entschlossen seinen geheimsten Gedanken zu dem Manne
hinüber.
Dann hab ich sie gesehen, dann hab ich sie gesehen!
schrie der Lange auf. Sie ist wie ein Schwan, wie
ein Schwan, der davonfliegt, murmelte er verzweifelt.
O, Sie kennen sie nicht! Was soll ich tun? Ich
sehe sie nicht wieder, wenn sie so weit fortgeht, und
ich bin doch der einzige Mensch auf der Welt, den sie
hat mit Leib und Seele. Der andere hat sie nie ge-
sehen und soll sie haben; ich bin der einzige, der sie wirk-
lich liebt, und mir will man sie nehmen. — Aber wenn
sie nicht will? sagte der Ingenieur. Sie will ja hinaus,
das sehen Sie doch selbst. Sie haben doch kein Kind
mehr vor sich.
Der Schwarzbärtige fuhr sich mit der Hand vor die
Augen. Hinter den Brillengläsern hervor rannen ihm
die Tränen über die hageren Wangen.
Dem Ingenieur wurde unsicher bei diesem Anblick;
er fühlte, daß er der Szene ein Ende machen müsse.
Er hätte dem Manne auf die Schultern klopfen, ihm gut
zureden mögen. Hatten nicht auch an seinen Schläfen
die Haare schon angefangen grau zu werden, war nicht
auch sein Körper, so straff er ihn hielt, schon geschwächt
von den Fiebern und den Entbehrungen der Jahre, die
er in einem mörderischen Klima verbracht hatte, offen-
barte nicht auch ihm zuweilen ein Spiegel das Leid seiner
eingefallenen Züge? Aber sein Herz war nicht weich
und verwöhnt wie dieses hier. Fast tat es ihm wohl,
einen Menschen, der sich nicht beherrschen konnte, so
leiden zu sehen. Diese Menschen im alten Europa!
Diese Leutchen, die mit ihrem Gemüt in ein seltsames
Gemisch von Daunen und von Stacheln eingebettet sind.
Er begriff sie, aber er verachtete sie doch, was ihn dabei
betraf.
Es wird ja noch eine Weile dauern, bis die Schwester
ihre Reise antritt, sagte er fast höhnisch. Afrika ist nicht
aus der Welt; vierzehn Tage Reise, was ist das heute?
Jeder Missionar bekommt seinen Heimatsurlaub; Sie
werden sie später als junge Frau wiedersehen. Was
soll ich Ihnen denn da noch helfen? Ich habe den Brief
überbracht; was darin stand, wußte ich nicht. Außer-
dem, lieber Herr, glaube ich, daß die Verlobten ausge-
zeichnet zueinander passen. Der Doktor ist ein braver,
guter Kerl. Es ist doch nicht das erste Mal, daß Unbekannte
einander heiraten. Das weiß auch der alte Danemann.
Alle Achtung vor ihm. Mehr kann ich nicht sagen.
Der Ingenieur winkte eine Droschke herbei. Der
Schwarzbärtige, der mit seinen langen eiligen Schritten
schon ein kleines Stück voraus war, kehrte zurück. Er
hatte seine Haltung wiedergefunden. Er reichte dem Ein-
steigenden fast stachlig die Hand und entschuldigte sich
für die Belästigung.
Die rasselnde Droschke, danach die Nachtfahrt in der
Eisenbahn, eine angestrengte Tätigkeit während der
nächsten Tage, die ihn in langen beruflichen Be-
sprechungen und Gesprächen halb unpersönlicher Art
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Sie wissen konnten, und um mich selber handelt es sich
schließlich auch.
Die Lippen des Mannes zitterten von diesen Worten,
die das lange Warten mühsam zurückgehalten hatte.
Er setzte sich den Hut auf den Kopf, nahm ihn wieder ab
und wischte seine Stirn mit der bloßen Hand; dann nahm
er das Taschentuch hervor und trocknete, gleichsam er-
staunt, den Hut auch von innen ab. Sie standen noch
unter der Straßenlaterne. Dem Ingenieur schien das
fahle, von dem Bart umrahmte Gesicht wie ein Stempel,
auf dem Sorge und Gram sich prägten, häßlich und
rührend zugleich.
Ich muß zum Bahnhof, sagte der Ingenieur. Wenn
Sie mich eine Strecke begleiten wollen, so stehe ich Ihnen
zur Verfügung, obgleich ich durchaus nicht sehe, was ich
für Sie tun kann.
Er ging weiter. Der Lange schritt neben ihm her
und sprach: Mathild Blum ist mein Mündel, sie ist das
Kind von armen Bauersleuten, die in der Nähe meiner
schwäbischen Vaterstadt eine kleine Mühle hatten. Der
Vater verunglückte, die Mutter ist ebenfalls früh ge-
storben, ich kannte die Eltern, Verwandte waren keine
da, ich sorgte, daß das Kind zu ordentlichen Leuten kam,
zuerst war sie noch in der Schule, dann in einer Stellung.
Ich dachte mir, ich würde sie dann heiraten, wenn ich
auch zwanzig Jahre älter bin. Hätt ichs nur getan!
Aber damals meinte ich noch, ich sei schon zu alt zum Hei-
raten, ich wollte ihr dafür wie ein Vater sein. Ich wurde
nach Berlin versetzt. Meine Base ist die Oberin in dem
Schwesternheim: ich sprach mit ihr, ob sie noch jemand
in die Anstalt aufnehmen könnte, so kam sie hin. Die
Mathild war glücklich darüber und ist nun schon seit zwei
Jahren da. Ich weiß nicht, was es ist, das Wesen dort
hat sie ganz verwandelt, ich habe es ihr schließlich gesagt,
daß ich rechten Undank von ihr erlebe. Da hat sie ge-
weint, und ich habe wohl einsehen müssen, sie ist so brav
und gut wie immer, aber eine andere ist sie doch ge-
worden. Es sind halt die frommen Ideen. Sie war auch
großjährig geworden, und warum hätte ich sie von dort
wegnehmen sollen, und wohin? Nun, seit ein paar
Wochen kommt die Rede auf, sie will zur Mission, nach
Afrika! Ich hab es ihr ausreden wollen, im Spaß und
im Ernst, es hat nichts gebattet. Seit dem Tag hab
ich keine ruhige Stunde mehr gehabt. Und heut nun,
als ich sie wieder einmal besuche und hoffe, sie redet nicht
mehr vom Weggehen, erfahre ich von der Verlobung.
Eine schöne Verlobung mit einem Mann, den man nie
gesehen hat. Mit einem in Afrika! Und wenns ein
Doktor ist und der Sohn vom Missionsinspektor selber, —
ein feines Gespinst ist das, eine Kuppelei, eine fromme
Kuppelei und weiter nichts! Und ich soll mich noch aus-
lachen lassen und mir erzählen lassen, daß das der Finger
Gottes ist, wenn sie mir jetzt davonfliegt, wie — wie
ein Schwan! Das hab ich nicht verdient. Nichts will
ich von ihr verlangen als nur, daß sie im Land bleibt,
wo ich nach ihr sehen kann und ein bißchen für sie sorgen.
Helfen Sie mir doch!
Sie waren in die Hauptstraße eingebogen. Das
Gerassel der Omnibusse und die Zahl der Lichter war
immer größer geworden; der Ingenieur konnte die
Klage des Mannes, der da an seiner Seite ging, nur noch
mit Mühe verstehen. Aber er sah ihn aufmerksam und
prüfend ins Gesicht. Ach, durch irgend einen Ausdruck,
der sich in die Miene des Schwarzbärtigen gemischt
hatte, erschien er ihm plötzlich wie ein belferndes,
altes Weib.
Wenn es doch noch mehr solcher Frauen gäbe, die
hinausgingen, sagte der Ingenieur da ganz laut und
entschlossen seinen geheimsten Gedanken zu dem Manne
hinüber.
Dann hab ich sie gesehen, dann hab ich sie gesehen!
schrie der Lange auf. Sie ist wie ein Schwan, wie
ein Schwan, der davonfliegt, murmelte er verzweifelt.
O, Sie kennen sie nicht! Was soll ich tun? Ich
sehe sie nicht wieder, wenn sie so weit fortgeht, und
ich bin doch der einzige Mensch auf der Welt, den sie
hat mit Leib und Seele. Der andere hat sie nie ge-
sehen und soll sie haben; ich bin der einzige, der sie wirk-
lich liebt, und mir will man sie nehmen. — Aber wenn
sie nicht will? sagte der Ingenieur. Sie will ja hinaus,
das sehen Sie doch selbst. Sie haben doch kein Kind
mehr vor sich.
Der Schwarzbärtige fuhr sich mit der Hand vor die
Augen. Hinter den Brillengläsern hervor rannen ihm
die Tränen über die hageren Wangen.
Dem Ingenieur wurde unsicher bei diesem Anblick;
er fühlte, daß er der Szene ein Ende machen müsse.
Er hätte dem Manne auf die Schultern klopfen, ihm gut
zureden mögen. Hatten nicht auch an seinen Schläfen
die Haare schon angefangen grau zu werden, war nicht
auch sein Körper, so straff er ihn hielt, schon geschwächt
von den Fiebern und den Entbehrungen der Jahre, die
er in einem mörderischen Klima verbracht hatte, offen-
barte nicht auch ihm zuweilen ein Spiegel das Leid seiner
eingefallenen Züge? Aber sein Herz war nicht weich
und verwöhnt wie dieses hier. Fast tat es ihm wohl,
einen Menschen, der sich nicht beherrschen konnte, so
leiden zu sehen. Diese Menschen im alten Europa!
Diese Leutchen, die mit ihrem Gemüt in ein seltsames
Gemisch von Daunen und von Stacheln eingebettet sind.
Er begriff sie, aber er verachtete sie doch, was ihn dabei
betraf.
Es wird ja noch eine Weile dauern, bis die Schwester
ihre Reise antritt, sagte er fast höhnisch. Afrika ist nicht
aus der Welt; vierzehn Tage Reise, was ist das heute?
Jeder Missionar bekommt seinen Heimatsurlaub; Sie
werden sie später als junge Frau wiedersehen. Was
soll ich Ihnen denn da noch helfen? Ich habe den Brief
überbracht; was darin stand, wußte ich nicht. Außer-
dem, lieber Herr, glaube ich, daß die Verlobten ausge-
zeichnet zueinander passen. Der Doktor ist ein braver,
guter Kerl. Es ist doch nicht das erste Mal, daß Unbekannte
einander heiraten. Das weiß auch der alte Danemann.
Alle Achtung vor ihm. Mehr kann ich nicht sagen.
Der Ingenieur winkte eine Droschke herbei. Der
Schwarzbärtige, der mit seinen langen eiligen Schritten
schon ein kleines Stück voraus war, kehrte zurück. Er
hatte seine Haltung wiedergefunden. Er reichte dem Ein-
steigenden fast stachlig die Hand und entschuldigte sich
für die Belästigung.
Die rasselnde Droschke, danach die Nachtfahrt in der
Eisenbahn, eine angestrengte Tätigkeit während der
nächsten Tage, die ihn in langen beruflichen Be-
sprechungen und Gesprächen halb unpersönlicher Art
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