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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Dehler, Richard: Stimmung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0374

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Stimmung.
als solches kennzeichnet, sie ist sein unterscheidendes
Merkmal.
Können wir das eigentlich Persönlichkeitbildende am
Menschen, seine Persönlichkeitsstimmung bis zum letzten
Rest erschöpfend bestimmen? Gewiß nicht. Ebenso-
wenig wie wir durch Beschreibung des Äußeren eines
Menschen es einem Dritten so zur Anschauung zu bringen
vermögen, als ob er den Betreffenden wirklich gesehen
hätte, ebensowenig gelingt es uns, die Persönlichkeits-
elemente eines Menschen, seine Stimmung bis zum
Letzten befriedigend festzustellen. Wir suchen ihr nahe
zu kommen durch möglichst genaue, von Fall zu Fall
sich abwandelnde, feingestaltige, vielseitige Kennzeich-
nung der unterscheidenden Einzelmerkmale, aber zuletzt
werden wir niemals die Empfindung los, daß hier etwas
Unauflösbares, Rätselhaftes, Geheimnisvolles sich gegen
die Sprödigkeit der sprachlichen Ausdrucksformen sperrt.
Einstweilen wenigstens. Vielleicht kommt einmal die
Zeit, da die Helligkeit des menschlichen Bewußtseins
und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit eine derartige
Vollendung erreicht haben, daß nicht mehr ungeduldige
Verzweiflung über die Unzulänglichkeit unserer Fähig-
keiten und Formen beim Erfassen der Wirklichkeit im
Hintergrund unseres Erkenntnisstrebens ruht, eine Zeit,
da sich Denken und Sein, innere Wirklichkeit und Aus-
drucksform mehr als jetzt decken. Dann werden wir
auch besser imstande sein, das Eigentümliche mensch-
licher Persönlichkeit treffsicher und erschöpfend zu be-
zeichnen.
Also: soviel abgeschlossene Einzelheiten in der Er-
scheinungswelt — soviel Stimmungen. Soviel Men-
schen — soviel Persönlichkeiten — soviel Stimmungen.
Ein seltsames, interessantes Schauspiel! Ein Schau-
spiel, das uns mit höchstem Entzücken erfüllen muß:
kein Blatt ist genau dem anderen gleich, kein Tier gleicht
dem anderen, jeder Mensch ist vom Anderen verschieden.
Jedes Einzelwesen trägt sein selbständiges Besonder-
heitsgepräge. Merkwürdige, wunderbare Mannigfaltig-
keit der Natur! Nichts gleicht sich, nichts wiederholt
sich. Allüberall Verschiedenheit. Immer können wir
wieder Andersartigem, Neuem, Sichunterscheidendem
unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Und doch verwirrt
uns dabei nicht die Unruhe der fortwährenden Ver-
änderung, des beständigen Zerfließens aller Dinge: die
Einzelheiten ruhen fest in sich, ihre Stimmung gibt
ihnen ihren einheitlichen, Ruhe und Sicherheit schaffen-
den Charakter.
Alle diese besonderen Einzelwesen treten nun in
Beziehung zueinander, sie ziehen sich an, vereinigen sich,
sie stoßen sich ab, ziehen sich wieder ins Alleinsein zurück,
sie gehen gleichgültig nebeneinander her, sie bekämpfen
sich — so entsteht, so bildet sich, das ist das Leben. Wie?
Leben somit das Resultat fortwährender Mischung ver-
schiedener Stimmungen? Das wäre eine Formel!
Man könnte es einmal mit ihr wagen.
Zweifellos: die Welt gewinnt an Reiz, wenn wir
mit dieser Formel im Bewußtsein unser Leben führen.
Alle Erscheinungen ringsum, alles, was eine Einheit
darstellt, hat sein Eigentümliches, seine Besonderheit,
ein eigenstes Grundelement, eine selbständige Stimmung.
Nicht an sich; das ist gleichgültig. Nein, für uns, für

unsere Auffassung der Außenwelt, für unser Betrachten,
für unser Fühlen. Wenn wir dem mit lebhaftem,
gespanntem Interesse nachgehen, wenn wir immer und
überall den Dingen auf den Grund zu kommen suchen,
wenn wir den Einzelwesen und den Gesamterscheinungen
ihre Sonderbarkeit ablauschen, abwittern, dann befähigt
uns diese Helligkeit des Blicks und diese Energie des
Sichhineinfühlens zum vollsten, reinsten, umfänglichsten
Lebensgenuß. Wir nehmen alles in seiner Eigenart
rein auf, wir genießen es rein, und wir erkennen es
zugleich und lassen es bestehen in seiner Notwendigkeit.
Es ist eine Lust zu leben, und die großartige innere
Freiheit eines Spinoza oder Nietzsche wird unser Eigen-
tum, die das Ganze der Welt und die Einzelerscheinungen
samt allen ihren Unzulänglichkeiten als notwendig, als
gerechtfertigt aufnimmt, die auch durch das unabänderlich
Häßliche und das unverbesserlich Gemeine und das
unvermeidlich Trübselige nicht dauernd unterdrückt
werden kann, sondern alle Düsterkeiten verschwinden
läßt in der strahlenden Leuchtkraft großer Gesamt-
überblicke.
Und nun der Mensch im besonderen. Das scheint
doch festzustehen: die Reichhaltigkeit des Innenlebens
nimmt fortwährend zu. Abgesehen davon, daß die
Masse des Bildungsmaterials immer größer wird, daß
die großen und kleinen Persönlichkeiten aller Zeiten und
Völker mit der ganzen Fülle ihres verschiedenartigen
Geistes- und Seelengehaltes lebendig gemacht werden,
— aller Augenblicke werden wir wieder überrascht durch
einen neuen Enthüller von Seelentiefen, einen, der
unser seelisches Bewußtsein neu zu formulieren vermag,
einen Schöpfer neuer Jnnenwerte. So wächst die Zahl
verschiedener Stimmungsmöglichkeiten unausgesetzt, das
Seelenleben des Menschen wird immer reichhaltiger und
wechselvoller; wir gehen auch hier mit kräftiger Anteil-
nahme den besonderen Gehalten nach, wir fassen alle
die Mannigfaltigkeiten menschlichen Wesens, alle Einzel-
und Gesamtstimmungen lebhaft auf, wir genießen sie,
wir bereichern uns durch sie, wir lassen uns durch sie
immer wieder zum Leben verführen, wir gewinnen
dem Leben immer stärkere Reize ab.
Also der Verkehr zwischen Mensch und Mensch ein
Austausch von Stimmungen? Auch diese Formel wollen
wir gelten lassen. Was ist Verkehr? Jeder Mensch
stellt, sagen wir einmal — einen Kreis dar, der als
Inhalt die Persönlichkeitsstimmung des betreffenden
Menschen umschließt. Verkehr ist ein Jnberührung-
treten dieser Kreise. Sie suchen sich gegenseitig zu durch-
dringen, sie erproben sich, und je nachdem sie dann
zueinander passen oder nicht, findet dauernde Anziehung,
Vereinigung oder Wiederabstoßen statt. Stellt man
sich nun die ungeheure Mannigfaltigkeit menschlicher
Seelenzustände vor, vergegenwärtigt man sich die Ver-
schiedenheit aller Einzelerscheinungen der Natur und des
Lebens, die zahllosen Möglichkeiten voneinander unter-
schiedener Umstände, unter denen Menschen in persön-
liche Berührung kommen, bedenkt man, daß örtliche
Verhältnisse, Klima, Witterung, Tages- und Jahres-
zeiten usw. immer wieder einen eigenen Stimmungs-
beitrag hinzubringen, daß die Einzelpersönlichkeit trotz
der Einheit im Ganzen ihres Wesens sich immer weiter-

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