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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Coellen, Ludwig: Die künstlerische Möglichkeit des Futurismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0378

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»Die künstlerische Möglichkeit des Futurismus.
keinen Wert zu begründen; aber es weist eine historische,
der Willkür enthobene Tatsächlichkeit an, die begriffen
sein will. Auch Holzwege mag es unter den Straßen
geben, welche die Geschichte zieht; aber erst wer sie über-
sieht, kann entscheiden, ob sie es sind. Begreifen heißt
hier die Frage beantworten: ist die neue Malerei eine
künstlerische Möglichkeit oder nicht? Der Futurismus
ist ihre äußerste Art, ihr Grenzfall. Könnte für ihn die
Frage bejaht werden, so wäre damit vielleicht schon das
Ganze gerechtfertigt.
Was ist Futurismus? Wir müssen seine Eigentüm-
lichkeit zu erkennen suchen, wie sie sich aus den vor-
liegenden Bildern ergibt. Das Markanteste ist: der
Futurismus hebt Eigenstruktur und Eigenwert der
festen Dinge auf. Die sind in seinen Bildern kaum oder
gar nicht erkennbar; sie sind ihm, unter völliger Miß-
achtung ihrer natürlichen Form und einmaligen Iden-
tität, nur Mittel, nichts als Mittel für seine besonderen
Darstellungsziele, und seine Darstellungsziele laufen
jedenfalls nicht auf die Formung eines gegenständlich
in sich bestimmten Seins hinaus, nicht auf die Formung
von Dingen als solchen in ihrem Eigenwert. Die Teile
der Gegenstände, wozu selbstverständlich auch die Men-
schen gehören, werden scheinbar willkürlich auseinander-
gerissen und vervielfältigen sich im Bilde. In Severinis
„ruheloser Tänzerin" z. B. steht links ein halber Frauen-
kopf, rechts sind etwa drei Viertel davon zu sehen; da-
zwischen steht im Hintergründe ein skizzenhaft schwacher
und kleiner Umriß der ganzen Figur und oben links
wiederholt sich ein Stück des Umrisses; und im Ganzen
sind die Figuren als solche nur schwer zu erkennen. Das
eine Beispiel ist bezeichnend für die ganze Art, die
natürlich mannigfach veränderlich ist. Die Ungegen-
ständlichkeit, in diesem Sinne der Aufhebung des
Jndividualcharakters und der Einmaligkeit der Dinge,
ist also ein futuristisches Prinzip. Es ist allerdings nur
ein negatives, das irgendwie in einem positiven Ziel
seinen Grund haben muß; aber seine radikale Behaup-
tung und Durchführung ergab jene verblüffende Para-
doxie, welche zunächst für die Zeitgenossen das einzige
Wesen dieser Malerei zu sein schien. Wer das Ziel und
damit das positive Wesen nicht sieht, muß die Sache
allerdings für verrückt halten.
Wie entsteht nun jene „Ungegenständlichkeit" in den
Bildern? Die Wahrnehmung von Außenweltdingen ist
in der gewöhnlichen Anschauung für den wahrnehmenden
Menschen eine zusammenhängende Vielheit von Empfin-
dungen seines sinnlichen Bewußtseins. Zugleich aber
werden diese subjektiven Empfindungskomplexe un-
mittelbar als Gegenstände genommen, als objektiv
existierende Dinge und vor allem als mit sich identische,
dauernde und einmalige Dinge, als ein in sich und aus
sich heraus gefestigtes und gestaltetes Einzelsein. Man
kann es so ausdrücken: das subjektive Empfindungs-
material wird unmittelbar gegenständlich interpretiert.
Die beständige Veränderung der Wahrnehmungsbilder
wird dabei als eine Veränderung des Zustandes der
Dinge selber gedeutet, als Außenwelt-Geschehen, als
ein dynamisch wirkendes Gefüge von Kräften, welche
den Zustand der Dinge bestimmen. Hier aber ist ein
Widerspruch vorhanden, der zwar im Nachdenken offen-

bar wird, der aber in der gewöhnlichen Anschauung
durchaus verborgen bleibt, ein Widerspruch zwischen dem
mit sich identischen, festen Sein der Dinge und dem mit
ihm spielenden Geschehen: das Sein wird aufgehoben
durch das Werden. Der Futurist nun löst den Wider-
spruch einseitig auf. Er sieht im Gegensatz zur gewöhn-
lichen Anschauung nur das Geschehen, den dynamischen
Prozeß. Er schallet aus seinen Wahrnehmungsbildern
die eine Seite der Gegenstandsdeutung, das Sein der
Dinge, aus, indem er diese Dinge nur noch als die ver-
änderlichen, in den Prozeß eingehenden Bestandstücke
des Geschehens faßt. So gewinnt für ihn die lebendige
Bewegung die Herrschaft über das zuständlich dauernde
Sein. Sein Empfindungsmaterial erscheint unmittelbar
nur dem Zeitverlauf untergeordnet und es verliert für
ihn den Charakter der identischen Dauer im Raum und
der Einmaligkeit. Er hält sich an die aufeinanderfolgen-
den Wahrnehmungsbilder, in denen sich dann dieselben
Gegenstände und ihre Teile in verschiedenen Formen
wiederholen. Und also verlieren für ihn die Dinge ihre
Eigenstruktur und ihren Eigenwert.
Das Prinzip der Ungegenständlichkeit findet demnach
tatsächlich seinen Grund und seine positive Ergänzung in
dem besonderen Ziel des Futuristen: er will rein das
dynamische Gefüge, die lebendige Bewegung gestalten,
er will Geschehen malen. Damit ist die Eigentümlich-
keit des Futurismus durchaus bestimmt. Sie liegt in
der Besonderheit seines Stoffgebietes, das freilich, wie
es immer der Fall ist und nicht anders sein kann, aus
einer besonderen Anschauungsweise erwächst. Das den
Futurismus kennzeichnende Stoffgebiet der künstlerischen
Formung ist die Dynamik der Außenwelt.
* *
*
Mit einer solchen Bestimmung des Stoffgebietes ist
für die Rechtsfrage noch nichts gewonnen. Sie erhebt
sich erst in bezug auf das Stoffgebiet. Entspricht, so
ist zu fragen, ein solcher Stoff noch den Bedingungen der
malerischen Formung? Mit anderen Worten: kann man
Geschehen malen?
Vorerst ist ein Einwand abzuweisen. Daß der Futurist
überhaupt den Eigenwert der Dinge ausschaltet, daß er
sich darin in einen Gegensatz zur gewöhnlichen An-
schauung stellt, ist an und für sich sein gutes Recht. Es
mag sein, daß die Malerei bisher die Identität der Dinge
gewahrt hat, ja daß ihre Formung an dieser den eigent-
lichen Halt zu finden gewöhnt war; es mag sein, daß
sich die futuristische Anschauungsweise sehr weit von der
gewöhnlichen des alltäglichen Lebens entfernt. Aber ein
vernichtender Einwand läßt sich daraus nicht herleiten,
es sei denn, daß es zu den Formbedingungen der Malerei
und dem geistigen Wesen der Kunst überhaupt gehört,
nur das gegenständlich fest bestimmte Sein zu gestalten.
Es ist eine mögliche Anschauungsweise, die in sich die
Wahrheit des Wirklichen trägt, das Geschehen, die leben-
dige Bewegung rein als solche zu erfassen. Die Natur-
wahrheit, soweit sie von der Kunst zu fordern ist, bleibt
auch der futuristischen Anschauung erhalten.
Gewährt soche Anschauung aber eine künstlerische
Möglichkeit? Das ist unsere Frage. Die Bestimmung
eines jeden Gemäldes ist formal die Herstellung einer

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