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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Hansen, Margret: Eine Stunde
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0459

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Eine Stunde.

Er geht mit leicht geneigtem Kopf und hat sich vor all
der blendenden Sonnenglut so in sein Inneres zurück-
gezogen, als sei ein trüber, grauer Tag umher, nicht
wert des Anschauens. Um seine Füße, die mit großen,
langsamen Tritten bergan steigen, hebt mehliger Staub
sich wie dicker Qualm und zieht eine schmale, weißgraue
Fahne hinter ihm her.
Jetzt ist er auf der Höhe, der Wald tut seine grüne,
brütende Stille auf, aber zuvor kommt das Häuschen.
Der Wanderer hebt den Kopf. Aus seinen Augen
fliegt der Gedanke fort, der den ganzen Weg herauf
darinnen gewohnt hat, die Lider tun weit sich auf. Der
Mann bleibt wie angewurzelt stehen und sieht zu einem
Fenster des Hauses empor.
Das Haus hat inmitten eine grüngestrichene Türe,
die geschlossen ist, rechts und links davon je ein Fenster
mit angeschobenen grauschwarzen Fensterläden und oben
über der Türe ein einziges breiteres Fenster, es steht
offen, die Fensterflügel gehen nach außen, kleine rote
Vorhänge sind an ihnen befestigt und flattern leicht.
An diesem offenen Fenster sitzt eine Frau, ihr An-
blick ist es, der des Wanderers Schritte hemmt.
Sie sitzt schier unbeweglich, hoch aufgerichtet, den
Körper seitlich zum Fenster, aber das Gesicht voll über
die Schulter gewandt, mit geradem Blick nach der Straße
gekehrt. Der Blick ist es, der den Mann festhält. Wie ein
Schrei bricht er aus der Stille des Gesichts. Das ist
von mattem Gelb, hat einen festgeschlossenen, nicht
vollen und nicht schmalen Mund mit blutroten Lippen,
und unter einer kräftig gewölbten Stirne, aus der die
schwarzen, glänzenden Haare glatt zurückgestrichen sind,
schmale Augen unter schwerbewimperten Lidern; schwarz
von Farbe sind die Augen, von der stumpfen Weich-
heit nachtdunkler Stiefmütterchen, aus ihrer Weichheit
aber bricht inmitten eine spitze, gelbe Flamme. So sind
die Augen, mit Worten kaum zu malen, dem Gefühle
aber wie Riß und Schrei im Herzen.
Und wie der Mann jetzt einen hastigen Schritt vor-
wärts macht und die Türe des Hauses öffnet, geschieht
es mit dem gleichen Wollen, das uns ins Feuer treibt,
um einem Menschen das Leben zu reiten.
Was sind das für Augen! denkt der Mann. Er
geht durch den Flur, da ist es kühl und still, an seinem
Ende schaut durch offene Türe das Bunt eines Gärtchens
und dahinter das Grün des Waldes herein. Eine kleine
Treppe steigt steil empor. Der Mann wirft seinen
Reisepack auf den Boden und springt die Stufen hinauf.
Wie er droben ist, denkt er plötzlich: Ich bin wahnsinnig,
das zu tun. Aber da fühlt er wieder den Blick, nein,
er hört ihn. Und er macht von neuem zwei Schritte
voran und öffnet eine Türe. Er tritt in eine Kammer,
die Halbdunkel ist, ein Bett steht darin, durch den Spalt
einer angelehnten Türe fällt Licht. Der Mann tritt
durch diese Türe in die Stube, wo die Frau am Fenster
sitzt. Mit ein paar großen Schritten ist er vor ihr.
Und wie er jetzt nahe ihrem Auge begegnet, atmet
er auf, als wollte er sagen: ich sollte kommen, es war
recht so.
Ein Tischchen steht vor ihr, mit Näherei bedeckt. Er
stützt seine Hände darauf, sieht die Frau an und sagt:
„Du riefst mich." Sie blickt schweigend und neigt nur
unmerklich den Kopf.

Er betrachtet sie. Sie trägt ein schwarzes Kleid, an
dem engschließenden Leibchen ist der Rock faltenreich
angesetzt. Am Halsausschnitt und an den kurzen Ärmeln
trägt sie schmale Streifen aus feuerrotem Stoff. Die
Arme sind bräunlich, fast golden, und so ist der Hals,
und ganz sanft steigt dieses Gold ein wenig an Kinn
und Wangen empor, was dem Gesichte einen sonderlichen
Reiz verleiht. Der Mann sieht lange in die seltsamsten
Augen, die er je geschaut, und endlich denkt er bei sich:
sie ist wie eine wundervolle giftige Blume, die über
das Gift in sich trauert.
Er fragt langsam: „Wie lange sitzest du schon da?"
Ihre Augenbrauen heben sich in leisem Spott, und
mit bedeckter Stimme antwortet sie: „So an die hundert
Jahr."
Sie schweigen wieder und sehen sich an.
Er fragt: „Bist du allein da im Haus?"
Sie sagt: „Jetzt und eine Stunde lang."
Sie steht auf. Sie ist groß, wie der Mann selber,
und fast zu gerade aufgereckt, mit einer leisen Biegung
des Rückens nach hinten, was der Gestalt etwas Ab-
weisendes und Herausforderndes zugleich gibt.
Er sagt: „Ich möchte wohl wissen, wieviel hundertmal
dein Mund schon geküßt hat!"
Da geht ein hartes, zorniges Licht aus ihren Augen,
und eine Röte, wie der Scham, läuft über ihr Gesicht.
Der Mann aber deutet dieses Erröten nicht falsch und
fühlt, wie die Frau zürnt, daß noch nie ein anderer
Mund sie zum Kusse zu zwingen vermochte.
Er steht dicht vor ihr, doch es bleibt noch so viel
Raum zwischen ihnen, daß nicht ihre Kleider sich berühren,
und beide halten die Arme über der Brust verschränkt.
Sie hat die Augen geschlossen. Er wartet. Da tut
sie die Augen wieder auf und senkt sie auf des Mannes
Mund. Er fühlt abermals jene spitze gelbe Flamme
und neigt langsam den Kopf vor. Sie biegt den Kopf
zurück, ihre Lippen liegen fest aufeinander, sein Mund
ist nahe, aber noch rührt keines von beiden Hand oder
Fuß. Sie läßt das Haupt ganz in den Nacken sinken,
und aus den halbgeschlossenen Lidern ihrer Augen ist
unverwandt ihr Blick auf des Mannes Mund gerichtet.
Er beugt sich jäh vor, tut seine Arme auseinander, faßt
die Frau hart an den Schultern und legt seinen Mund
fest auf den ihren. Langsam schließen sich unter seinen
Küssen ihre roten Lippen auf und langsam sinken die Lider
über die brennenden Augen und decken die Flamme zu.
Vom Fenster herein und durch die offengebliebenen
Türen hinaus streichen Wellen heißer Luft durch den
Raum, die Vorhänge schlagen leicht gegen die Fenster-
scheiben.
Der Mann weiß kaum, wieviel Zeit verstrichen ist,
aber die Frau kennt genau die ihr zugemessene Stunde.
Immer wenn der Mann seine Hände lockert, und
seine Liebkosungen unterbricht, öffnet sie ihre Augen
und heftet den heischenden Blick auf ihn, immer wieder
sieht er dieses züngelnde Licht, und ihm ist, als kämpfe
er damit und müsse es durch alle Kunst der Liebe aus-
löscben.
Sie öffnet die Augen nicht mehr und scheint zu
schlafen. Er hält sie still im Arm. Eine Weile ist es
todesruhig und die Zwei hören nur ihre Herzen wild
gegeneinanderschlagen.
 
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