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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Soellen, Ludwig: Die alte und die neue Naturphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0486

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Die alte und die neue Naturphilosophie.
unter die Kausalität: die Anziehung der Erde ist die
Ursache sür den Fall als deren Wirkung. Allgemein
saßt er alles Geschehen in solcher Weise als kausal-
verknüpft auf; er bringt, mit anderen Worten, an das
Geschehen die Voraussetzung heran, daß in der Körper-
welt eine durchgängige Verknüpfung von Ursache und
Wirkung gelte. Erst auf Grund dieser Voraussetzung
sieht er sich veranlaßt, eine Anziehungskraft der Erde
oder vielmehr eine Anziehungskraft zwischen den ma-
teriellen Substanzen überhaupt (mit gewissen Ausnahmen)
anzunehmen, um das beobachtete Geschehen kausal zu
erklären. Die Kausalität ist also eine methodische Vor-
aussetzung, d. h. eine solche, welche die Arbeits- oder
Erkenntnisweise bestimmt. Ein anderes Beispiel: die
Mechanik hat es als Grundsatz, daß ein Körper so lange im
Zustande nicht nur der Ruhe, sondern auch der Bewegung
verharrt, als keine Kraft diesen Zustand zu verändern
strebt; ein Körper, der einmal durch einen Stoß in Be-
wegung gesetzt wurde, müßte sich danach in alle Ewig-
keit mit der erlangten Geschwindigkeit gleichförmig
weiterbewegen. Erfahren läßt sich so etwas nicht, aber
es ist dennoch ein notwendiger Grundsatz der Natur-
wissenschaft, eine ihrer methodischen Voraussetzungen,
die freilich auch heute noch viel umstritten ist. Wenn
die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungen, der
Sinnesempfindungen, als welche sich die Natur dem
Menschen darstellt, aufgefaßt wird als eine Mannig-
faltigkeit von Eigenschaften, welche einer den Raum er-
füllenden Materie zukommen, wenn diese Materie als
teilbar und undurchdringlich gesetzt wird, so sind die Be-
griffe der Materie, der Teilbarkeit und Undurchdring-
lichkeit wiederum methodische Voraussetzungen, die
keineswegs wahrnehmbar sind, sondern die Umwand-
lung der Wahrnehmungen in Erkenntnis, in naturwissen-
schaftliche Erkenntnis bestimmen und ermöglichen. Ja,
selbst die Begriffe Raum, Zeit und Bewegung sind solche
Voraussetzungen und offenbar die allerersten; denn ohne
sie sind selbst die bisher genannten Begriffe und Grund-
sätze nicht möglich. Raum, Zeit und Bewegung ent-
stammen ebensowenig wie diese der bloßen Beobachtung;
sie sind vielmehr Begriffe, welche für die Zwecke der
Naturforschung einer bestimmten, vorweg zu liefernden
Definition bedürfen, und welche dann die theoretische
Mechanik begründen, die ihrerseits der Naturwissenschaft
die mathematische Exaktheit liefert.
Die Naturwissenschaft arbeitet also mit gewissen
Begriffen und Grundsätzen, durch welche sie erst zu dieser
methodisch besonderen Wissenschaft wird; sie sind nicht
ihre Ergebnisse, sondern die Mittel, mit Hilfe deren sie
Ergebnisse erlangt. Um es genau zu sagen: sie sind die
Formen, in welche sie die ungeordnete Mannigfaltig-
keit des sinnlich Gegebenen faßt, sodaß diese dadurch
wissenschaftliche Erkenntnis wird; Naturwissenschaft ist
also eine solche Formung des Stoffes der sinnlichen
Wahrnehmung. Sie ist etwas durchaus Verschiedenes
von der gewöhnlichen Anschauung, und das ist sie, weil
ihr Aufbau ganz und gar das Ergebnis der Verwendung
jener Formen darstellt. Wie sehr das gilt, begreift
man erst vollständig, wenn man der Sache ganz auf den
Grund geht. Die Naturwissenschaft geht von den Tat-
sachen aus und will daraus Naturerkenntnis machen;

die Tatsachen sind ihr „Gegenstand", das Erkennen der
Natur ist ihr Ziel. Das ist nun zwar leicht gesagt, aber
nicht so leicht inhaltlich zu begreifen. Was ist denn eine
Tatsache? Für die Naturwissenschaft ist es ein Begriff,
der nicht ohne weiteres klar ist und in der „Erfahrung"
vorliegt, sondern der eben aus den vorausgesetzten
Grundbegriffen erst erwächst. Sie wählt aus der Er-
scheinungsmannigfaltigkeit dasjenige als Tatsache oder
Gegenstand aus, was diesen Grundbegriffen entspricht;
in der Tatsache oder dem Gegenstand verdichtet sich ihr
schon die Vielheit der Grundbegriffe gleichsam zum
Thema ihres Arbeitens. Nicht weniger gilt das vom
„Erkennen"; auch das ist seinem Wesen nach nur zu be-
stimmen in Hinblick auf die Grundbegriffe und Grund-
sätze: sie sind es, die vorschreiben, was naturwissen-
schaftliches Erkennen heißen soll. Aber ist es nicht die
Natur, die erkannt werden soll, und ist nicht Natur das
Vorliegende, das dem Menschen schlechthin von außen
Gegebene? Gerade umgekehrt verhält sich die Sache.
Natur ist ein Begriff, ist der nirgends unmittelbar
vorliegende Begriff einer Einheit, einer Totalität, eines
geschlossenen Ganzen der materiellen Welt, und als dieser
Begriff ist die Natur vielmehr eine an die Spitze gestellte
Forderung, eine Aufgabe für die Naturwissenschaft, die
unendliche Aufgabe nämlich, mit Hilfe des Systems der
Grundsätze die Tatsachen aus dem Gesichtspunkte einer
solchen Einheit zu ordnen. So hängt also das Schicksal
der Naturwissenschaft in der Wurzel ab von den Be-
griffen des Gegenstandes, der Erkenntnis und der Natur,
und diese drei Begriffe sind denn auch ein erschöpfender
Ausdruck für die Probleme der Naturphilosophie.
Wichtig ist da vor allem, daß die Naturwissenschaft
ihre Grundsätze sozusagen unbesehen anwendet, sie nicht
irgendwoher ableitet oder beweist, sondern sie gleichsam
als selbstverständliche Voraussetzungen findet; so
wie ein Mensch im allgenreinen etwa seine Augen zum
Sehen benutzt, ohne sich zu fragen, woher denn diese
Fähigkeit zu sehen stamme, und ohne sich immer wieder
bei der Benutzung klar zu machen, daß die Form, d. h.
das ganze Aussehen des erblickten Gegenstandes von
der Funktion des Sehens bedingt ist. Gewiß stellt die
Naturwissenschaft ihre Voraussetzungen als solche auf;
aber ihre Aufgabe ist erst das Arbeiten mit ihnen. Hier
stehen wir nun beim Ursprung des naturphilosophischen
Problems: die Naturphilosophie erhebt angesichts des
gegebenen Faktums der Naturwissenschaft die Frage
nach jenen vorausgesetzten Grundsätzen. Ihre Arbeit
entsteht also da, wo die Naturwissenschaft nicht mehr
fragt; ihre Arbeit ist die Untersuchung der Grundsätze.
Sie fragt: Wie ist die Naturwissenschaft möglich? Sie
will es aus dem Wesen des menschlichen Wissens über-
haupt begründen, daß der Mensch den Begriff einer
Natur bildet, daß sich ihm aus diesem Begriff sodann die
Grundsätze ergeben und daß daraus wiederum der natur-
wissenschaftliche Begriff des Gegenstandes herfließt. Sie
wendet sich also an die Prinzipien des Wissens überhaupt
und sucht aus ihnen die Lösung für ihre allgemeinste
Frage: Wie ist Natur im wissenschaftlichen Sinne, d. h.
als ein System von Erkenntnissen, möglich?
Diese Frage ist eine eigentlich philosophische Frage.
Selbstverständlich ist es auch dem Naturwissenschaftler

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