Heidelberger Zeitung (1862 (Januar bis Juni))

38.


Sonntag, S. März


L8V2.

-j-s Die Lage Jtaliens oder Ricasoli
«nd Ratazzi.

Dcr vor einige» Tagen z»r »ollendeten
Lhatsache gewordene Rücktrttt Ricasoli's war
ntcht unerwartet; er war schon früher ent-
schteden, nnd zwar von dem Auaenblick an,
als Rtcasott keinen Mtntster des Jnncrn znr
Ergänzung setnes Mtnisterimns fand. Setn
Sturz galt schon für ausgemacht, als Ratazzi
vor cinigen Mvnatcn nach Parts gcrcist war.
Hätte stch dicser^Letztcre durch seine dort zur
Schau getragenen staik buonapartistischen Sym-
pathtcn bei seinen LandSleutcU in Ztalien nicht
cinigcrmaßcn geschadet, so würde er wohl glctch
bei seiner Rückkehr Ricasoli abgclöst habcn.
Ratazzi aber sühlte, daß er vorerst jene Pa-
rtser Ungchörigkeiten in Vergeffenheit bringen
müffe, und rieth dem Königc V. Emannel selbst
davon ab, als diescr ihn bercits srühcr zum
Minister berufcn wolltc. Jn Folge dessen
konntc Ricasoli einige Monate länger Mini-
sterpräsident bleiben, biS endlich ein besondercr
Umstand, nämlich ein Zwiespalt zwischen ihm
und dcm Könige in Folge des Genueser De>
mokraten-Congresses, seine schließliche Abdan-
kung doch herbeiführtc.

Ein gletchzeitigcs, bet der robusten Natm
des Königs fast unbegreiflichcS Unwohlsctn
und etne hiermit verbnndene Verstimüiung
dcffelben, wurde mit dieseni Schrttte in eine
gcwiffe Wechselbeziehung gebracht. Bct Ri-
casoli'S wohlbekannter Starrheit soll es an
mißliebigen Auflritten übcrhaupt nicht gcfehlt
haben. UebrtgenS war seine Amtsführung,
wenn auch nichl dte eines gewandten Diplo-
matcn, so boch eines Ehreiimanncs von festem,
unbeugsamem Character. Alles Schlimme hat
cr währcnb dcrselben auS besteil Kräflen von
seinem Vaterlande abgewendet; durch Einver-
leibung Roms oder sonst iu hervoitrclender
Weise demselben in hohem Äaaße postliv zu
nützen, wäre unter den über Zlalien fetzt vb-
wallenden ganz besondcren Verhältniffcn auch
einem Andern, selbst einem Cavour nicht gc-
lungen. Jn g-wiffein SlNlic IIIIN lst der Sturz
Ricasvli's ein Sieg dcs französtfchen, mit dem
englischen rivalistrenden Eiiifluffes in Turin,
und zngleich eine Art Genugthuung für den
Piemontisiniis in Jtalien, der biöher nur mit
großem Verdruffe die Leitung dcr StaatSge-
schäfte in den Händen eincs Florentiners sah.
Daß die Enllaffung dieseS Letztern aber zu-
glcich einen Wechsel der bisherigen itälieni-
schen Polltlk beteuke, wic Viclc zu fürchten ünd
Manche zu hoffen scheinen, ist vorläustg noch

zu bezwciseln. Solange Napoleon III. Rom
Nlcht an Jtalien ausltefert und das Turiner
Minlsterinm neucGebietSabtretungen anFrank-
reich verweigert, bleibt die Situation unvcr-
Lndert, gleichviel ob der Minislerpräsident Rk-
casoli oder Ratazzi heißt. Nur in dcm Falle,
alS man stch tn Turin von bcm Wahue fort-
reißcn ließe, daß Z'lälien stark genug set, um
allcin vorzugehen, würde dic Sitiiation plötz-
lich einen ganz andern Charakter annehmeii.
Doch ist für setzt daran nicht zu denken. DaS
neue Ministerium wird stcher nichtS ohne
Frankreich unternehmen, mithin sö lange Frie-
bcn halten, als dcr Kaisei der Franzosen dieS
gcrade sür nöthig findet. AndercrseitS muß
sich aber Ratazzi zugleich vor jedcr neuen allzu
wcit gchenden Tiänsaction mtt Frankrcich hü-
ten, namcntlich vor jeder solchen, die einen
weitcren GebietSschacher in sich schlteßen würde.
Andernsalls würden nur die Mazzinisten Ter-
rain gewilinen, und fiele sclbst Gäribaldi stcher
von V. Emanuel vollständig ab, um fich an
die Spitze einer Bewcgung zu stellen, welchc
der Anfang einer für Jtalien höchst verhäng-
ilißvollen Wendung wäre, und auf den Ein-
tritt ciner noch mächtigeren Partei in und außcr-
halb Jtalicns nur wartet, um lhre gegen dte-
ses Land gerichteten Plane durchzuführen.
Schon die Besrtedigung, welche Ricasolt's
Sturz tn Paris hervorgerusen hat, und daS
Bedauern, welches hingegcn darüber in Lon-
don ganz unzweideutig zum Ausdrnck gclangt
ist, schcint Manchem »on keiner ganz günstigen
Vorbedeutung zu sein. Es ist diescr Umstand
jcdoch in der Ratnr der Vcrhältniffc bcgründct,
und darf vorerst zu kcinen wirklichen Besorg-
nifsen Anlaß gcben.

Was schließlich daS Ml'ilisteri'um Rtcasolt
dem Lande geleistrt, läßt sich einfach dahtn zu-
sammenfassen, däß es das Wcrk Cavour's jwar
„icht vollcndet, aber doch anfrecht crhal-
ten hat. Dtc itaiicüische Frage befindet sich
somü noch IN demselben Stadium, wie zu Ca-
vours Tode, nur dte Aussicht, die Hauptstadt
Romzu erlangen, i'st tnzwischcn'nicht größcr ge-
worben. Wcr hieraii noch irgend einenZweifel
gesetzt hat, dem ist sotchcr dnrch die tn der
tetzten Si'tzimg «cS französtscheii Senats ge-
halleneil Reden,dic einen bebcutnngSvolleii Pen-
danl zür Lagc Jtatirns äbge'ocn, benommen
worden, tnsbesoudcrc durch den 'Vortrag
Lagiieronnieres, welcher so recht dte i'nncrsten
Gedankcn setnes kaiscrlichcn H-rrn aussprach.
Hiernach reduzi'rt stch dl'e römtsche Frage näch
wi'c vor auf das ci'nfache Wort „Warten".
Dtescr Zustand zwischen Thür und Angel abcr

soll allcm Anscheine nach so tange daucrn alS
dtc Regierung deS jetztgen Papstcs, nach dcsscn
Tode man die Wahl eines, der tlalienischen
Sache iind dcn französifchen Vermittimigsvor-
schiägen gefügi'geren Kirchensürsten zuvctrvyiren
hofft. Denn uiit Gcwalt gegen PiuS IX.
vorzuschreiten, wagtdoch setbstetn Napoleon III.
nicht, mit Rückstcht auf dcn französifchen ClernS
und etnen großcn Theil dcS fraiizösischen Vol-
keS, abgeskhen von den Jnleressen sciner eige-
nen Polttik durch die Besetzthaltung RomS.

* Politische Umschau.

v. Goddäus, gegenwärtiq Ml'nister des
Aeußern, ist vom Kursnrsten mit Bildung ei-
nes neuen Ministeriums beauftragt. Ob der
der Mann ift, eine neue Epoche in Kurhessen,
wenn eine solche überhaupt bevorsteht, her-
beizuführen, ob er insbefondere das hiezu nö-
thige Vertrauen der kurhesstschen Nechlspartei,
d. i. des kurhesstschen Volkes besißt, ist sehr
zu bezweiseln. Die Zeit sagt von Godväus:
„Es ist derselbe Herr, der in den Jahren»
1848 und 1849 aus breitester demokratischer
Grundlage stand, um mit der Rückkehr Has-
senpflugs sich zum Treubund, dann zum Has-
senpflug'schen Lanvtagskommissär und so aU-
mälig weiter zum Mmister zu bekehren; der
als Landtagskommiffär den Ständen von 1850
die denkwüroigen Wörte zurief: Die Negie-
rung verlangt Ihr Vertrauen nicht, die Re-
giernng verlangt blos Geld.

Bezüglich der Uebercinkunft zwischen Oester-
reich und Preußcn in ber kurhesstschen Ange-
legenheit schreidt die neueste „Kreuzzeltung"
(die bekannllich in der Negel sehr gut imter-
richtet ist): „Preußen und Ocsterreich haben
stch in der kurhessischen Frage geeinigt, indem
preußischerseils das Wahlgesetz von 1849,
österreichischerftits das.Zweikammerspstem aus-
gegebeu ist. Beide Staaten werden nun beim
Bunde gemeinschaftlich einen Antrag steUen
zur Beilegung des Zwtstes."

Der Commissions - Bericht der preußischen
Abgeorvnetenkammer empflehlt dem hohen
Hause die Annahme der Resolutiön: es liege
im Interesse'Prenßens, die Anerkennung des
Königreichs Italien nicht länger zu ver-
zögern. -

Einem Berliner Telegramm zufolge ist die
Frage wegen Anerkennung bes Königreichs
Itglien seitens des Berliner Hofes in ein
solches Stadium gelreteu, daß diese Idee vor-
läufig als voUkommen ausgegeben betrachtet
werden kann.

Zoologische Ltudicn

moderner ILHier- und Menschenarten, die in keinem
Handbuche anzutreffen sind.

(Schluß.)

3) Der Bücherwurm (v«rmis xdilosoxüus) gei-
stig ein Riese, physisch etn Wurm, der sich krümmt,
wenn er getreten wird. Vertritt in der Politik theo-
retisch die Resultate der neuesten Wissenschaft, prac-
tisch aber die Ansichten seiner Frau. Er glaubt zu
arbeiten, wenn er denkt, und zu faullenzen, wenn
er handelt. Gehört zu denWürmern, dievonsau-
lenden Substanzen leben und hält sich in den mo-
derigen Schwammgewächsen auf, die auf der fau-
lenden Rinde der umgestürzten deusschen Riesen-
eiche nächtlich emporgeschossen sind. Er riecht un-
angenehm und erregt dem gesunden Menschenver-
stande Ekel und Erbrechen; wird indessen dennoch
officiell over'officiös gegen politische Nervenaffectc
in abgestorbenen Staatskörpern verschrieben.. Sein
VorkonimeN jst sporadisch, hauptsachlich in Mittel-
deutschland und an Universitaten.

4) Der Schwein-Jgel (komo dkstmtiter sub
slternus), eine weit verbreitcte Species, die ihre

Igelnatur dadurch bekundet, daß sie, nach oben glatt,
wie ein Aal und gckrümmt wie ein Katzenbuckel,
nach unten plötzlich rauh, borstig und stachlicht wird
nach dem Princip jeder devoten unfreien Natur,
die nach oben sclävisch sich krümmt und nach unten
tyrannisch sich bläht. Es ist die einzige Menschen-
Species, dre überäll polizeilich verboten sein sollte,
obgleich sie in vielen Staaten die aüergesuchteste ifl.
Es sind Achselträger, Manteldreher, Ohrenbläser,
Gedankenhäscher, Spione, Augenverdreher,dieWö.lfe
im Schasspelze der Demuth, kurzum jene Menschen-
sorte mit confiscirten Gesichtern, vor denen die Wahr-
heit zum Verbrechen und das Recht zur Thorhcit
wird. Sie haben einen schleichenden, huschenden
Gang, ciNen scheuen Blick, ein schematisirtes Ge-
wissen, eine absolute, knöcherne Moral, einen uni-
formirten Verstand und einen bureaukratisch-nor-
mirten, im langsamen Schritt tactfest geübten Puls-
schlag, kurzum fie haben die Bewegungen tstnes
durch Vivisection seiner Gehirnsubstanz trostlos be-
raubten, maschinenartig gewordenen Menschen; sind
Zerrbilder von Gottes Ebenbild, die man bejam-
mern würde, wenn man sie nicht als gtftig zertre-
ten müßte. Glücklicherweise begsnnt die Sorte

dünner zu werden und wollte der H.immel, daß fie
bald ganz ausstürbe!!

5) Der gemeine Hornochse (komo'stllpiäaLe
maAllus) gedeiht am vorzüglichsten auf deutschen
Tristen, ist dumm, still und gefräßig, macht Car-
riere, hat zu keinem Posten den Verstand und taugt
dcshalh zu allen. Zudem ist er äußcrst gutmüthig,
versäust scin bischen Verstanb und wird vor der
Zeit kindisch. Er ist dcr einzige Ochse auf dem
ganzen Erdenrund, der seine Stiexnatur nicht ver-
loren hat, vielmehr durch den Heimlichen Betrieb
der Letztern sich HLufig als Hornochse manifestirt.
— Die Species ist deshalb auch unsterblich und
wird in Prachtexemplaren auch Rhinoceros genannt.
Dftse sinb so cingebildct auf ihre wirkliche Große
in der Branche der Dummheit, daß sie ftets eine
geladene Pistole mit sich herumtragen, um Icden
niederzuschießen, der es wagt, dümmer zu scin als sie.

6) Der Maulasfe (simis msulus), kennzeichnet
sich hauptsächltch durch ein stets offen stehendes Maul
ohne an Maulsperre zu leiden, und einen ver-
schlossenen, vernagelten Verstand; tst überall zu-
gegen, zeigt viel Jnteresse für städtische Angelegen-
hciten und wird bei jedem Straßenscandal in den