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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Hesse, Hermann: Abschied von der Jugend
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Halm, August Otto: Leitmotiv und Sonatenform
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0213

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Leitmotiv und Sonatenform.

siehst, so denke an alles Zarte, bald Verwelkte/ unwieder-
bringlich Köstliche/ womit dich selber einst deine erste
Liebe beschenkt hat. Ich wollte sie mit mir nehmen
und behalten/ zum Andenken an meinen Frühling;
aber es ist besser, daß sie in deinen Haaren verwelke.
Die gelbe Rose, deren seidene Blatter seltsam fahl
und wie kränklich verbogen sind und rötliche Ränder
haben, diese fiel mir zu über die Mauer jenes Schloß-
gartens, in dem ich vorzeiten die Lieder einer blassen
Dame mit der Geige begleiten mußte. Du kennst sie
auch, und du weißt, warum ich dir diese Rose schenke.
Und die andern alle! Eine ist mir von freundlicher
Hand in ein Lieblingsbuch gelegt worden, eine andere
hob ich vom Boden auf, nachdem sie aus den Fingern
einer traurigen Braut gefallen war. An jede ist ein
Traum geknüpft, und jeder dieser Träume wird einmal
in irgend einer fernen Zukunft zu mir zurückkehren.
Und nun, schöne Lulu? Ich habe noch eine Rose
in der Hand, meine letzte. Verstehst du mich? Sie ist
von dir, du hast sie gestern vom Busch geschnitten und
mir geschenkt. Sie hat mir viel von dir erzählt, und sie
ist schön, sie ist zu schön für mich. Ich will dir nicht weh
tun, aber sieh, ich reise jetzt in ein Land, wo es keine
Rosen gibt und wo ich keine brauchen kann. Nimm auch
diese wieder von mir an! Ich wollte sie hegen und
zärtlich aufbewahren, als ein Andenken an diese Tage, die
nur in der Hand schon Vergangenheit werden wollen.
Aber es ist besser, daß sie in Deinen Haaren verwelke.
Leitmotiv und Sonatenform.
Nach der üblichen Auffassung hat das Leitmotiv
im Musikdrama das Verständnis in irgendwelcher
Art zu vermitteln; es begleitet den Vorgang, leitet den
Zuhörer. Man könnte die Musik, insofern sie sich dieser
Aufgabe unterzieht, als die Dienerin ansehen; sie gliche
da nicht selten dem Lakaien, der die Visitenkarten ab-
zugeben hat.
Wie nun, wenn wir bemerkten, daß ein solches Leit-
motiv häufig gerade dann auftritt, wenn wir es gern
hören, wenn wir es sogar mit Freuden willkommen
heißen; und daß solches nicht allein seiner etwaigen
Schönheit oder Anmut zuzuschreiben ist, sondern daß
wohl auch einmal nur eben der bestimmte Charakter uns
erwünscht erscheint, auch wenn ihm keine dieser Tugenden
anhaftet?
So ist es mit dem Riesenmotiv im Rheingold be-
stellt. Für sich gehört, wirkt es plump, nichtig und auf-
dringlich zugleich. An der Stelle aber, wo es zum ersten
Mal auftritt, unter das ängstliche oder verlegene Wesen
hinein, von dem wir die Götterwelt befallen sahen,
wirkt es mächtig, unwiderstehlich stark, gerad und ehrlich,
beinahe groß in seiner Wucht. Also hat dieser ganze Zu-
sammenhang eine wesentliche Ähnlichkeit mit der So-
natenform, als welche die Themen, die ihr dienen, eben
durch deren Dienst zu tragen, über sich hinauszuheben
fähig und vielleicht berufen ist; die Form steigert den
Wert des einzelnen Faktors des Geschehens. Das ideale
Musikdrama hätte die Vorgänge und ihre Aufeinander-
folge so zu wählen und zu gestalten, daß die musikalischen
197

Repräsentanten der Vorgänge oder der Träger der
Handlung, also eben die Leitmotive, ebenso zusammen-
gehören und zu einem Organismus zusammenwachsen,
wie es die Themen einer guten Sonate tun. Das ist
nun nach dem Material, das meines Wissens der musika-
lischen Ästhetik zu Gebot steht, nicht zu kontrollieren;
der Eindruck, den ich nach dieser Hinsicht von Richard
Wagners Musikdramen gewinne, ist nicht einheitlich.
Bei dieser Unsicherheit mag es genügen, die Frage auf-
geworfen und ein Beispiel genannt zu haben, das mir
einen erfreulichen Fall zu bedeuten scheint.
Dagegen kann ein anderer Gebrauch Wagners als
formal-musikalisch wertvoll nachgewiesen werden, und
dieser spricht, um das gleich vorweg zu nehmen, gegen die
verbreitete Ansicht, daß Wagner der Musik hauptsächlich
oder gar lediglich eine dienende Rolle zugewiesen habe;
nehmen wir uns das Recht, davon abzusehen, welches
Amt er ihr in seinen theoretischen Schriften zuerkannt
hat, und gehen wir von den Tatsachen aus. Es ist fürs
erste das Wiederkehren der Leitmotive, das mit der
„Wiederkehr" als einem Gebot der Sonatenform große
Ähnlichkeit hat. Mag sein, daß, auch ohne daß die Ab-
sicht des schaffenden Künstlers darauf gerichtet wäre, die
Bedürfnisse des Dramas und der Sonatenform häufig
von selbst übereinstimmen. Es soll uns jetzt nicht die Frage
beschäftigen, ob die Mehrzahl der musikalisch guten Fälle
dem bewußten Schalten zu verdanken und dem Autor
im einzelnen als Verdienst anzurechnen ist; diese Frage
ist mehr historisch als ästhetisch interessant.
Sodann finden wir in Wagners Musikdramen Musik
ohne Gesang, als Zwischenspiele, Verwandlungsmusiken,
die eine erstaunliche Ähnlichkeit nut den Durchführungs-
teilen der Sonate haben, was ihre musikalische Art,
vielleicht auch was ihre tektonische Funktion, ihre Arbeit
am Zusammenhang anbelangt.
I.
Da Siegmund seine zweite Erzählung mit den
Worten abschließt: „den Vater fand ich nicht", wird das
Wotansmotiv beziehungsweise der Anfang des Walhall-
themas im Orchester gebracht. Das steht nun nicht
sonderlich gut zum Vorhergehenden, und nicht besser
steht der Fortgang zu ihm; es macht den Eindruck des
Fremden. Zwar ist das die Absicht des Autors; aber
der musikalisch Fühlende gibt sich nicht zufrieden damit;
er empfindet ein Thema, das mitten in einen Zusammen-
hang von ganz anderem Charakter hineintritt und gleich
wieder verschwindet, nachdem es nur eben einmal gesagt
wurde, als einen störenden Fremdkörper — wenn er
nicht anders des Stilgefühls des Autors sich versichert
halten darf, wie es hier glücklicherweise der Fall ist.
Denn es ist im bisherigen musikalischen Aufbau dieser
Szene wirklich dafür gesorgt, daß wir ein Wiederkehren
und breiteres Sichausleben dieses hier nur vorläufig sich
anmeldenden Themas erwarten dürfen; wir sind an
dieser Stelle auf den technischen Grundsatz der Wieder-
kehr schon eingestellt: und somit ist es nicht etwa bloß eine
nachträgliche Reparatur, wenn' uns das Thema später
wieder erscheint und dann ausgesührt wird. Freilich
wird das nur derjenige froh und dankbar begrüßen, der
erst ein leises Unbehagen in die Erwartung des Kommen-
 
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