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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Kyser, Hans: Aus den "Gesängen"
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Lissauer, Ernst: Zu Goethes Tagebüchern
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0255

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Schläfert mich Ruhlosen ein? Entschlummern die
freundlichen Saiten
Hinter den Bergen, die wolkengleich schwebend ver-
glänzen,
Hinter den Sternen, die ruhig den Nachtkreis um-
kränzen?
An den Orion.
Du beugst dich durch die Himmel, Orion, beuge dich tiefer
herab, tiefer: in meine Hände!
Ach, zu finster ist meine Finsternis, hebe mich auf zu dir
in deine lichtströmenden Lebensgelände.
Nacht ist nicht Nacht bei dir, du schreitest mit Hellen Sohlen
über die hängenden, himmlischen Felder und
Wiesen,
Dich umfließen wie Quellen smaragdene Sonnen, dir
sprießen wie Rosen rubinrote Nächte zu Füßen.
Aber dich halten sie nicht: dir bluten die Knie schon vom
Blute der ruhlos zerstampften Gestirne,
Glühender nur umbrennen dich Wälder aus blauem
Kristall, umschatten dir Wirbelstürme die triefende
Stirne.
Richte sie auf! Gesang! Aus unendlichen Lüften stürzt
nieder Gesang: das sind der Kometen erdonnerde
Zungen.
Siehe: sie spreiten in Wollust die Schweife dir zu und
sind in unendliche Lüfte schon wieder erklirrend
verklungen.
O Geheimnis! Wer rief sie empor aus den Schluchten des
Eisraums: es kommen die Rudel der weißen,
uralten Hirsche gegangen,
Neigen ihr Wundergeweih in Demut vor dir, aus dem
Goldgezweige versuchen mit schillernder Weisheit
dich die verfluchten Schlangen.
Aber du achtest es kaum: du beugst dich der Finsternis zu,
durch das Chaos kreißende Schreie tiestief zu er-
lauschen.
Wie die Brunnen der Ewigkeit rauschen und einfache
Rede und Lieblichkeit tauschen.
Oh, wie schwillt dir vor solcher Sprache Gewalt im Schoß
der lebendige Same: du packst aufstöhnend
In Qual der Liebe den Köcher, wirfst auf die Sehne den
Pfeil, drückst sie ab, daß sie dröhnend
Durch die Ewigkeit schreit! Den Pfeil, wohin zieltest
du deinen Pfeil, Orion? Ich höre ihn schwirren
Über mir durch die Nacht! Wohin schoß ich den Pfeil
meiner Liebe, Orion? Du siehst ihn irren
Von Nacht zu Nacht, von Sonnen zu Sonnen: ein Ziel,
Orion, Geliebter, sag mir sein Ziel?!
Du steigst zur Tiefe, still.

u Goethes Tagebüchern?
Gespräche, Briefe, Tagebücher, diese nicht stili-
sierten, gleichsam naturalistischen Dokumente sind
bei Goethe womöglich für uns bedeutender, als die gestal-
teten Werke. Goethe ist für uns mehr als ein großer
Dichter: er ist das Urbild einer gestaltenden Existenz.
Die Gespräche sind ebenfalls schriftstellerische Leistungen:
auf eine gelassene Art äußert sich da diese Unermeßlichkeit,
die nicht Atem holen kann, ohne dichte Gewölke von
segensreichen Keimen und Samen zu entlassen. Die
Briefe sind Ferngespräche solcher Art, indem sie mancher-
lei Einblick in den Tag selbst geben, stehen sie freilich
in Manchem den Tagebüchern nahe. Die Tagebücher
aber bilden gewissermaßen mikroskopisch das Gewebe
dieser Existenz ab. Goethes Tagebücher sind ihrer Absicht
nach etwas ganz anderes als etwa die Hebbelschen:
Diese sind ein rein geistiges Notizbuch, das Eindrücke,
Gedanken, Erfindungen, Funde, Beobachtungen festhält
und die dichterische und intellektuelle Entwicklung ab-
spiegelt. Die Goetheschen sind lediglich die Akten seines
Lebens. Es ist unregelmäßig, zufällig und nicht den:
Plane gemäß, wenn den sachlichen Vermerken des Ge-
schehenen Reflexionen eingeflochten werden. Will man
das Wesentliche dieser Hefte erkennen, so muß man
alles abweisen, was auch an anderen Stellen, den in
Gesprächen oder den Sprüchen in Prosa, stehen könnte:
Betrachtungen, Maximen, Reflexionen, Sentenzen;
wesentlich ist nur das, im äußeren oder inneren Sinn,
Vorgefallene: das Geschehene, das sichtbar oder unsicht-
bar Geleistete.
Aus den Jahren 1806 bis 1832 liegen Goethes
Tagebücher ohne Lücke vor; aus dem Jahrzehnt vorher
fehlen nur sechs Monate; was vorangeht, sind nur
Bruchstücke. Man erkennt schon an der Menge und der
Vollständigkeit dieser Hefte, die in 35 Jahren nur
wenige, in 25 gar keine Lücken aufweisen, welche Be-
deutung Goethe ihnen zumaß. Er notiert am 6. Januar
1832: „Ich bedachte die Agenda von Januar und
notierte einundzwanzig verschiedene Besorgungen, Ein-
leitungen und Ausfertigungen"; Agenda: das Gerun-
dium wird kartnoi^ium ksrlsotzi, und es ergibt sich der
ethymologische Sinn des Wortes „Akten". Tag hinter
Tag kann man diese Existenz während dieser Zeit
ablesen, und wenn auch nicht buchstäblich Stunde hinter
Stunde, so ist doch jeder Tag mit Deutlichkeit in Teile
zerlegt. Und es wäre wertvoll, wenn wir, über die
Aufzeichnungen der Tageshefte hinaus, mit Hilfe der
* Hans Gräf hat (im Jnselverlag) eine Auswahl aus Goethes
Tagebüchern veröffentlicht, die auf 180 Seiten über 800 Ver-
merke enthält und mit vortrefflich unterrichtenden Anmerkungen
und einem Register versehen ist. Die gute Einleitung enthält
unter anderem eine Tabelle, die ersichtlich macht, welche Tage-
bücher Goethes uns erhalten sind. Einige Blätter sind faksimiliert.
Gräf hat sich bemüht, nur interessante Vermerke aufzunehmen;
aber man wünschte gerade den einen oder anderen besonders
arbeitsreichen Tag vollständig wiedergegeben, wenn selbst der
Inhalt (etwa die Adressaten der betreffenden Briefe) an sich nicht
interessant wäre: der Reiz liegt hier in der Fülle und Mannig-
faltigkeit der Tätigkeit selbst, im Wieviel, nicht im Was; Qualität
wird vorausgesetzt, die Quantität ist bedeutsam. Das Buch kostet
zwei Mark und ist im Geschmack der Goethezeit ausgestattet. Es
ist eine der am meisten gelungenen Veröffentlichungen aus der
gesamten, Goethe betreffenden Literatur.
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