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Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 9.1909/​1910

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Hocheder, Karl: Gesichtssinn und baukünstlerisches Schaffen
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https://doi.org/10.11588/diglit.52069#0275

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Hefi 20.

Die Werkstatt der Runst.

26Y

Das Heraussichten solcher höchster Wirkungswerte und
ihr Ordnen für einen oder mehrere Gesichtspunkte ist der
bewußt erworbene Besitz des bildenden Künstlers, also das-
jenige, was er gegenüber dem nur genießend, nicht
schöpferisch tätigen Betrachter voraus hat. Der letztere
gewinnt aber damit den Vorteil, daß ihm die Arbeit des
Zurechtfindens mit Hilfe seines eigenen Vorstellungsbesitzes
abgenommen und ihm dafür ein meist unbewußt hin-
genommener, doch als Wohltat empfundener Beitrag zum
ästhetischen Genuß geliefert wird.
Auch in der Architektur sei die raumgestaltende Tätig-
keit zunächst von den Funktionssormen unabhängig. Diese
letzteren entwickelten sich erst aus den inneren statischen und
konstruktiven Bedingungen des Bauwerks heraus und
führten zu den bekannten Baugliedern wie Säulen, Gebälken,
Gesimsen, Profilen. — Soweit das Problem der Form.
von den Raumwerten als einem Hauptfaktor der
baulichen Wirkung soll hier zunächst die Rede sein, indem
allererst die Grenzen des deutlichen Sehens beachtet und
die daraus sich ergebenden Folgerungen gezogen werden.
Je nachdem der Blick auf eine in der Ferne auf-
tauchende Stadt oder auf einen Platz in ihrem Innern,
auf ein einzelnes, diesen Platz umsäumen helfendes Haus
oder Teile dieses Hauses gerichtet ist, wird, dem jeweils
angemessenen Abstand des Betrachters entsprechend, das
Gesehene immer nur bis zu einer gewissen Formstufe
deutlich erfaßt werden können, während unter dieser Stufe
stehende kleinere Formbestandteile als noch ungegliederte
Komplexe, in denen eine neue Formstufe zu keimen beginnt,
für das Auge existieren und sich zur klar gesehenen Grund-
form in ein unterordnendes Verhältnis setzen.
So ist z. B. die Grundform der in der Ferne auf-
tauchenden Stadt ihre Silhouette, zu ihr tritt die unklar
erkennbare plastische Modellierung sich unterordnend hinzu;
der Grundform des Stadtplatzes ordnen sich wieder die ihn
umsäumenden Häuser als eine Reihe zunächst ungegliederter
Keimformen unter; am einzelnen Haus heben sich bei
näherem Standpunkt Bekrönungen, Teilungen und Um-
rahmungen ab, die bei noch näherem Herantreten als
Gesimse erkennbar werden, an denen wiederum in nächster
Nähe Profile und zuletzt struktive Zierformen im Sinne
der stetigen Unterordnung nacheinander bestimmt sich heraus-
zeichnen.
Diese räumliche Begrenzung unseres Sehvermögens
ist es, welche aus sich selbst heraus das Gesetz der Zer-
gliederung einer Einheit insbesondere bzw. umgekehrt:
das jeweilige Zusammenfaffen von Einzelheiten zu einer
höheren Einheit, kurz das Gesetz der Einheit in der
Mannigfaltigkeit schafft. In ihm liegt eine Aufforderung
an den Künstler, während er im Schaffen vom Allgemeinen
zum Besonderen vordringt, den Eindruck seines Werkes zu
vertiefen und zu verstärken dadurch, daß er die in der
Gesamterscheinung wirksamen Raumwerte auch in den
Einzelmassen wiederklingen läßt und durch dieses Hindurch-
wirken des Massenspiels vom Größten bis ins Kleinste
das ganze Werk und seine Teile mit einer einheitlichen
Stimmung durchtränkt und innig zusammenbindet.
Der Baukünstler befolgt im weiteren dieses erwähnte
Gesetz, wenn er bei Gestaltung seines Bauwerkes den
Hauptstandpunkt des Beschauers möglichst in Betracht zieht,
ob dieser weit entfernt ist und vor allem zur Ausbildung
des äußeren Umrisses, sei es knapp gefaßt auf steiler
Bergkuppe oder behaglich ausgedehnt in weiter Ebene,
anregt, oder ob er nähergerückt zu lebhafterer Reliefierung
der Flächen einlädt, ob dabei der Blick gerade oder schräg
nach vorn gerichtet werden muß und letzterenfalls zu jenen
eigenartigen Gliedern hindrängt, wie es, z. B. an den in
engen Gaffen errichteten Genueser Palästen angewendet,
dem schrägen Anblick am stärksten entgegenkommt.
Es liegt aber endlich auch eine Aufforderung des
Künstlers zur Berücksichtigung der Ansprüche, welche an
die Klarheit der Erscheinung bei wechselnder Entfernung
der Standpunkte zu stellen sind und die für jede dieser
Entfernungen nur dann erreicht wird, wenn die kleinen

Formen mit dem wachsen der Entfernung wieder in bestimmt
erkennbaren größeren Formen in ähnlicher weise auf-
gehen, wie z. B. an Stoffmustern kleinere Figuren zu klar
herausgezeichneten größeren Figuren sich einigen, sobald
man sie von größerer Ferne aus ansieht.
wenn wir nun im Bestreben, das Bauwerk in rein
räumlicher Hinsicht zu erfassen, zunächst auf die Einzel-
heiten einer Ärchitektureinh eit eingehen, so betreten wir ein
Gebiet, auf welchem die räumlichen Wirkungen mit den
funktionellen sich berühren, vorerst sind für den Schaffenden
die Beziehungen der Teile zum Ganzen lediglich durch ihr
Volumen und ihre Lagerung im Raume bedingt, und in
bezug auf ihre Anordnung finden nur die Gesetze der
Reber-, Unter-, Nebenordnung und der Ähnlichkeiten und
Kontraste in der Massengruppierung auf verkleinerter Basis
ihre Anwendung, aber es kommt doch nebenher zu einem
funktionellen Beziehen innerhalb der zusammentretenden
Glieder, als Ergebnis wirklicher oder vorgestellter Kräfte.
Als Erfüllung der Gesetzmäßigkeiten nach beiden
Richtungen stellen sich die ost genannten architektonischen
Proportionen dar. Als Raumwerte figurieren sie, soweit
sie bloß Verhältniseindrücke darstellen, wie sie auch in der
Wiederholung einander ähnlicher geometrischer Figuren am
Ganzen und den Teilen vieler klassischer Baudenkmäler
von August Thiersch nachgewiesen werden konnten, als
Funktionswerte treten sie auf, wenn sie das Ergebnis
funktioneller Absichten sind.
Da die Architektur von Anbeginn an als Kunst des
Wohnbaues die innigsten Beziehungen zum Menschen und
seinen Verhältnissen hat, so ergibt sich von selbst, daß der
Mensch und sein Maß gewissermaßen den Urmaßstab, die
Maßeinheit innerhalb baulicher Schöpfungen vorstellt; er
ist die erste und letzte Skala, an welcher Architekturgrößen
vergleichsweise gemessen werden, und kein Bauwerk kann
ohne Schaden für seine Wirkung dieses Maßstabes ent-
raten. Unsere aufgerichtete Gestatt verlangt eine ihr ent-
sprechende Bemessung von Baugliedern, mit welchen sie in
praktische Berührung kommt, von- Türen oder sonstigen
aufrechten Bauformen wie Säulen, Stützen usw. Gegen
Maßverhältnisse, welche damit nicht rechnen, sträubt sich
unser Körpergefühl, und es ist eine direkte Bezugnahme
auf uns, wenn wir z. B. ein Portal gedrungen oder schlank,
kurzbeinig, schwerköpfig, eine Säule zu dick oder zu kurz
benennen.
Verwandt mit dieser anthroxomorphen Einschätzung
von verhältniswerten ist das Schätzen ganzer Architektur-
größen.
von der menschlichen Maßeinheit können wir, um zum
klaren Erfassen großer Dimensionen zu gelangen, stufenweise
vorgehen, in der Art, daß wir den zu großen Unterschied
in mehrere Stufen zu kleinen Unterschieden teilen, die
gefühlsweise leicht an unseren eigenen Proportionen
gemessen werden können. Der ungewöhnlich starke Größen-
eindruck der Hagia Sophia in Konstantinopel entsteht nicht
nur in der vergleichbaren Steigerung auf dem Wege
vom Narthex zum eigentlichen Kirchenraum, sondern auch
dadurch, daß die nicht allzu großen und zweifach über-
einander durchgehenden Bogenstellungen im Verein mit den
sehr vielen kleinen Fensteröffnungen den Raum und seine
selbst schon zweifach abgestuften Annexe wie mit einem
fast gleichmaschigen Netz überziehen, dessen Maschengröße
leicht an unserer menschlichen Maßeinheit gemessen und
gefühlsweise erfaßt werden kann, was uns wiederum in
den Stand setzt, von dieser so gewonnenen größeren Maß-
einheit aus das Ganze seelisch zu bemessen, und die Be-
deutung dieses uns innewohnenden Maßstabes liegt eben
darin, daß er nicht Verstandesmaß, nicht eine tote Aus-
dehnungszahl vorstellt, mit der unser Empfinden nichts an-
zufangen weiß, sondern, daß er Gefühlsmaßstab ist und
damit die Dimensionen lebendig macht.
In der größten Kirche der Welt, in StFPeter zu Rom,
ist es verabsäumt worden, irgendeine Anknüpfung an unser
menschliches Maß zu suchen; der Ausdruck „eine Kirche
für Riesen" bezeichnet direkt den begangenen Fehler, und
 
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