Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 9.1909/​1910

DOI Artikel:
Hocheder, Karl: Gesichtssinn und baukünstlerisches Schaffen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.52069#0277

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Liest 20.

Die Werkstatt der Runst.

27s

In der Architektur tritt der Rahmen in mancherlei
mehr oder weniger ausgesprochener Form auf. Die frap-
pante Wirkung von Veduten ist ja bekannt, ebenso der
Effekt von Durchblicken durch Raumfluchten als ein Hin-
durchsehen durch mehrere Rahmen hintereinander, wie sie
z. B. in den Beziehungen von Vestibül, Hof und Garten
der Palast- und Villenanlagen italienischer Renaissance zu
bewundern sind.
weniger direkt, aber doch im gewissen Sinne als
Rahmen wirken an Bauwerken seitlich vorgeschobene Flügel.
Sie regen die Bewegung des Blickes nach der Tiefe mit
Konzentration gegen die Mitte besonders stark an.
Diesem in jedem Innenraum, Innenhof oder ge-
schlossenen öffentlichen Platz von selbst gegebenen konkaven
Verhalten wiederum entgegengesetzt ist der Anblick eines
zwischen zwei Straßen vorgeschobenen Baukeiles. Dieser
Reil tritt dem Vordringen des Blickes direkt hemmend ent-
gegen und lenkt die Auffassung des Bildes umgekehrt von
der Mitte nach den Seiten, den beiden Straßenfluchten, ab.
Unser Auge fühlt sich bei einem Anblick der ersten Art be-
ruhigt, bei einem der zweiten beunruhigt, und den Grund
für die Entstehung dieser entgegengesetzten Gefühle kann
man sich sür den ersten Fall in der Beobachtung der Forde-
rung nach Abblendung der schwächer gesehenen Gesichts-
feldränder, für den zweiten Fall in der Unterlassung dieser
Abblendung, dafür aber in dem Zwange zu einem fort-
währenden Akkommodieren des Auges auf die in ein und
demselben Bilde vereinigten Nah- und Fernsichten erklären.
Die Forderung nach Ablesung des Reliefs von vorn
nach hinten wird jetzt verständlicher, wenn wir den eben
beschriebenen Vorgang vom Großen ins Kleine übersetzen.
Dem vorgeschobenen Baukeil entspricht dann nichts anderes
als die über die Reliefvorderfläche sich herausdrängende
Form, und dem hohl gebildeten Baukörper nichts anderes
als das ermöglichte ungehinderte Eindringen des Blickes
bis in die Tiefen des Reliefs.
Allen Raumschöpfungen unter freiem Himmel ist ge-
meinsam, daß ihnen vom Rahmen das obere Abschlußstück
fehlt; als Ersatz dafür kommt aber ein anders geartetes
Bedürfnis des Auges in Frage, eine Eigenart räumlicher
Anordnung, wie sie sich dem allumfassenden Geist Goethes
beim Anblick des Inneren der Arena in Verona unwill-
kürlich aufdrängte, wenn er der Empfindung Ausdruck ver-
leiht, hierin „etwas Großes und doch eigentlich nichts zu
sehen", wenn er also in dem Stufenbau des Amphitheaters
eine Vorbedingung erkennt, mit deren Benutzung man erst
zu einem wirksamen Etwas gelangt.
Es ist das jenes amphitheatrale Raumgerüst in ovaler
Form, das die bequemste und zugleich reichhaltigste Ueber-
sicht gewährt und in seiner Benutzung zu Wirkungseinheiten
führt, welche Städte wie Konstantinopel, Genua, Neapel
und andere zu den schönsten der Welt machten, wie es
aber auch im ebenen Terrain durch fortgesetztes Anweisen
der Hinteren Plätze für höher entwickelte Bauteile im Bilde
gewonnen werden kann.
Die ästhetischen Werte, hervorgegangen aus der Be-
obachtung dieser drei räumlichen Forderungen: „konkaven,
geschlossenen und amphitheatralen Aufbaus" eröffnen im
Verein mit einer Anpassung an fast immer vorhandene
Verschiedenheiten oder Bodengestaltung, Verschiedenheiten
der baulichen oder landschaftlichen Nachbarschaft eine un-
endlich mannigfaltige Abwechslung, eine außerordentliche
Fülle von Möglichkeiten des Gestaltens. Ls ist die stets
neue Situation, die selbst in ein und dieselbe Aufgabe
immer wieder Neues hineinträgt, ihr stets neues frisches
Leben einflößt und so verhindert, daß die häufige Zweck-
gleichheit einer völligen Lrscheinungsgleichheit und dadurch
einförmigen Nüchternheit zugeführt wird.
wer denkt da nicht sofort an die unerschöpflichen
Verschiedenheiten in der ortsbeherrschenden Erscheinung
unserer zahlreichen Landkirchen, die sich aus der fortgesetzten
Rücksichtnahme auf diese stets wechselnden Beziehungen er-
geben haben, oder an die ungemein geschickte Art, wie
Schwächen in der individuellen Gestalt einzelner Objekte,

z. B. dem Mangel eigenen Gleichgewichts vieler Kirchen
mit seitlichen Türmen, durch ein Gegengewicht in dem
Herantreten fremder Baumassen in verschiedenster Art ab-
geholfen ist.
welcher Reichtum an Gestaltungskraft dieser höchsten
Stufe räumlicher Einigung aber innewohnen kann, zeigen
erst recht jene alten Platzgrupxen, welche wir noch heute
irr vielen aus dem Mittelalter herübergeretteten Städten,
zum Teil unversehrt, zum Teil rekonstruierbar, vorfinden.
Besonders bewunderungswürdig ist bei diesen irregulären
Raumgefügen die große Oekonomie, mit der da die Wir-
kungen besonders ausersehener Wertobjekte bis aufs äußerste
ausgenützt sind, wenn wir z. B. sehen, wie nicht selten ein
Rathaus oder ein anderes öffentliches Bauwerk in eine
Gruppe von mehreren freigestalteten Plätzen gerade an
deren Zusammenstoß so hineingestellt ist, daß es sich in die
einzige Lücke an dieser Stelle gegen jeden Einzelplatz zu
zwanglos einfügt und, so nach allen Seiten hin die räum-
lich geschlossene Erscheinung vollendend, jedem dieser um-
liegenden Plätze eine besondere Ansicht ihrer Ligengestalt
als beherrschendes Schauziel darbietet. Das ist etwas ganz
anderes und unendlich wertvolleres, als die Aufstellung
einer Kirche in den geometrischen Mittelpunkt eines weiten
freien Platzes.
Man muß sich das Zustandekommen dieser alten Platz-
gruppen mit ihren Mittelpunkten nicht aus einem bestimmten
Wollen heraus, sondern aus einem von unfehlbarem künstle-
rischen Instinkt geleiteten stetigen, in verschiedenen Bau-
perioden nacheinander vor sich gegangenen, räumlichen
Lin- und Anpassen an vorhandene Bestände vorstellen, um
ihnen gerecht zu werden.
Ls bedurfte erst eines äußeren Anstoßes durch den
Wiener Lamillo Sitte, das bereits latent vorhandene
Gefühl für solche werte zum energischen Wiederaufleben
zu bringen.
Sowohl die bewußte philosophische Aesthetik, wie auch
das unbewußte Empfinden der breiten Masse hatte schier
ein Jahrhundert hindurch die Fühlung mit den eigentlichen
Raumwerten der Architektur verloren gehabt. Erst den
letzten Jahrzehnten des verflossenen Jahrhunderts blieb es
vorbehalten, zunächst theoretisch wieder ein Verständnis
und ein Verhältnis zu diesen zu gewinnen.
Während noch im Barock und Rokoko die Raumkunst
ihre höchsten Triumphe gefeiert und mit feinstem Gefühl
nicht bloß von der nächsten, sondern von der Umgebung
im weitesten Sinne sich die Gesetze für die Gestalt ihrer
Werke holte und umgekehrt weit in die Landschaft hinein
die Wirkung ihrer Bauten ausklingen ließ, schien mit dem
Erlöschen der Originalstile der Sinn für die Raumwerte
im großen und ganzen in den Hintergrund getreten zu sein.
Freilich lebte er in dem Bewußtsein einiger weniger,
auf der Höhe architektonischen Schaffens stehender Bau-
künstler vereinzelt fort, aber als allgemein bewußter oder
instinktiv gefühlter Besitz der damaligen Baubetätigung
starb er immer mehr ab, bis er schließlich in jenem trockenen,
leblosen Schematismus endete, der in der Befriedigung
eines nüchternen Ordnungssinnes geometrische Regelmäßig-
keit, aber ohne ihren ehedem sinngemäßen Zusammenhang,
gepaart mit dem Bestreben peinlichster Egalität als ästhe-
tische werte nahm und mit diesem kühlen Geist des Lineals
und Zirkels den Straßennetzen unserer modernen Städte
den Stempel jener nivellierenden Gleichförmigkeit aufdrückte,
die so weit entfernt ist von dem belebenden wechsel der
Situation, welcher das Gleiche stets wieder zu Neuem macht.
In dem Wiedergeltendmachen der Raumwerte dürfte
wohl das Hauptmoment der neuzeitlichen Entwicklung
unserer Baukunst seit Ende des abgelaufenen Jahrhunderts
zu erkennen sein. Die ältere Schöpfungsweise legte in
ihren Werken bekanntlich den Akzent auf die Verwendung
des sorgsam gesammelten, gemessenen und verglichenen
Formenschatzes historischer Kunstperioden und gelangte so
dazu, den Funktionsgehalt der Form gegen dessen Raum-
wert, freilich mit zu einseitig formalistischem Einschlag,
stärker in den Vordergrund der Beachtung zu rücken.
 
Annotationen