Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen
— 3./4.1921/22
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https://doi.org/10.11588/diglit.21786#0072
DOI issue:
1. Oktoberheft
DOI article:Marfels, Carl: Wie ich Sammler wurde
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1 i t e r a r i s c h e n gemacht hatte. Gewöhnlich glaubt man,
sich durch Benutzung eines Briefstellers einen guten Stil
aneignen zu können. Weit gefehlt! Will man seinen
Stil verbessern, dann ist das einzig Richtige, gute Bücher
zu lesen, wie wir sie unseren Klassikern verdanken, weil
man dadurch nicht nur ausgezeichnete
Vorbilder hat, sondern auch seinen Wort-
schatz vermehrt.
So muß auch derjenige, der Kunst-
kenner werden will, weniger theoretische
Bücher über Kunst lesen, als vielmehr
eines Kunstwerkes. Wenn du, verehrter Leser, einen
Gegenstand erworben hast und du siehst ihn nach acht,
nach vierzehn Tagen, nach vier Wochen wieder an, dann
wirst du die Erfahrung machen, daß er dir entweder
immer besser gefällt oder daß er in deiner Wertschätzung
verliert. Gefällt er dir immer besser, dann
ist es ein gutes Stück; verliert er, dann
taugt er nicht viel. Dieses Moment der
Zeit, daß hier eine große Rolle spielt, ist auf
allen Gebieten der Geisteswissenschaften
ausschlaggeber.d. So wird ein wirklich
Goldemail - Madonnenuhr. Zeit: 1650
die großen Werke unserer Vorfahren entweder im
Original oder in guten Reproduktionen kennen lernen
und des öfteren sehen. Wie beim Stil, so kommt dann
von selbst die Fähigkeit, zu beurteilen, was gut und was
schlecht ist. Auch mich führte unausgesetztes Betrachten
und Vergleichen von Gemälden und sonstigen Kunst-
werken endlich zum Ziele.
War das eine Genugtuung,
als ich fühlte, daß ich es
wenigstens so weit gebracht
hatte, ein gutes Gemälde
von einem mittelmäßigen
oder schlechten unterschei-
den zu können!
Mit dem alimähligen
Wachsen meines Kunst-
verständnisses entstand ein
ganz neuer Trieb in mir,
nämlich der, die gemachten
Erwerbungen zu behalten,
und damit wurde ich
Sammler. Ich fing außer-
ordentlich bescheiden an,
mit alten Taschenuhr-
werken. Von den Werken
kam ich auf komplette Uhren, und zwar sammelte
ich mit solchem Eifer, daß ich schon im Verlauf der
ersten zwei Jahre mehrere hundert alte Taschenuhren zu-
sammengebracht hatte. Ich mußte nun eine merkwürdige
Erfahrung machen. Ich erkannte bald, daß das Moment
der Zeit ein überaus wichtiger Faktor ist zum Bewerten
gutes Buch immer besser gefallen, je öfter du es liest.
Du brauchst nur an den „Faust“ oder an die „Odyssee“
zu denken. So wird ein gutes Musikstück wie eine
erstklassige Symphonie dich immer mehr begeistern,
je öfter du sie hörst, während ein triviales Stück dir
bald zum Ekel wird. So wird dir ein schönes Bauwerk,
eine bedeutende Statue
immer besser gefallen, je
öfter du sie betrachtest.
Stets wirst du neue Schön-
heiten in ihnen entdecken!
Also das Moment der
Zeit wird ein Mittel, die
Güte eines Kunstwerkes zu
beurteilen. Mir zeigte es
bald, daß die von mir in
den ersten Jahren ge-
sammelten Uhren nichts
wert waren; bis auf einige
wenige Exemplare habe ich
sie alle wieder ausgeschie-
den. Von nun an kaufte
ich nur noch bessere
Stücke, von denen ich die
weniger bedeutenden immer
wieder veräußerte, bis ich nach etwa 20 Jahren eine
Sammlung besaß, die mit das Beste darstellte, was die
Uhrmacherei früherer Jahrhunderte geschaffen hatte.
Leider kam ich nun bald an einen entscheidenden
Wendepunkt meiner Sammeltätigkeit. Ich war mit der
Zeit so anspruchsvoll geworden, daß mir nur noch das
Außergewöhnlich feine Graveurarbeit von Theodor de Bry. 16. Jahrh.
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sich durch Benutzung eines Briefstellers einen guten Stil
aneignen zu können. Weit gefehlt! Will man seinen
Stil verbessern, dann ist das einzig Richtige, gute Bücher
zu lesen, wie wir sie unseren Klassikern verdanken, weil
man dadurch nicht nur ausgezeichnete
Vorbilder hat, sondern auch seinen Wort-
schatz vermehrt.
So muß auch derjenige, der Kunst-
kenner werden will, weniger theoretische
Bücher über Kunst lesen, als vielmehr
eines Kunstwerkes. Wenn du, verehrter Leser, einen
Gegenstand erworben hast und du siehst ihn nach acht,
nach vierzehn Tagen, nach vier Wochen wieder an, dann
wirst du die Erfahrung machen, daß er dir entweder
immer besser gefällt oder daß er in deiner Wertschätzung
verliert. Gefällt er dir immer besser, dann
ist es ein gutes Stück; verliert er, dann
taugt er nicht viel. Dieses Moment der
Zeit, daß hier eine große Rolle spielt, ist auf
allen Gebieten der Geisteswissenschaften
ausschlaggeber.d. So wird ein wirklich
Goldemail - Madonnenuhr. Zeit: 1650
die großen Werke unserer Vorfahren entweder im
Original oder in guten Reproduktionen kennen lernen
und des öfteren sehen. Wie beim Stil, so kommt dann
von selbst die Fähigkeit, zu beurteilen, was gut und was
schlecht ist. Auch mich führte unausgesetztes Betrachten
und Vergleichen von Gemälden und sonstigen Kunst-
werken endlich zum Ziele.
War das eine Genugtuung,
als ich fühlte, daß ich es
wenigstens so weit gebracht
hatte, ein gutes Gemälde
von einem mittelmäßigen
oder schlechten unterschei-
den zu können!
Mit dem alimähligen
Wachsen meines Kunst-
verständnisses entstand ein
ganz neuer Trieb in mir,
nämlich der, die gemachten
Erwerbungen zu behalten,
und damit wurde ich
Sammler. Ich fing außer-
ordentlich bescheiden an,
mit alten Taschenuhr-
werken. Von den Werken
kam ich auf komplette Uhren, und zwar sammelte
ich mit solchem Eifer, daß ich schon im Verlauf der
ersten zwei Jahre mehrere hundert alte Taschenuhren zu-
sammengebracht hatte. Ich mußte nun eine merkwürdige
Erfahrung machen. Ich erkannte bald, daß das Moment
der Zeit ein überaus wichtiger Faktor ist zum Bewerten
gutes Buch immer besser gefallen, je öfter du es liest.
Du brauchst nur an den „Faust“ oder an die „Odyssee“
zu denken. So wird ein gutes Musikstück wie eine
erstklassige Symphonie dich immer mehr begeistern,
je öfter du sie hörst, während ein triviales Stück dir
bald zum Ekel wird. So wird dir ein schönes Bauwerk,
eine bedeutende Statue
immer besser gefallen, je
öfter du sie betrachtest.
Stets wirst du neue Schön-
heiten in ihnen entdecken!
Also das Moment der
Zeit wird ein Mittel, die
Güte eines Kunstwerkes zu
beurteilen. Mir zeigte es
bald, daß die von mir in
den ersten Jahren ge-
sammelten Uhren nichts
wert waren; bis auf einige
wenige Exemplare habe ich
sie alle wieder ausgeschie-
den. Von nun an kaufte
ich nur noch bessere
Stücke, von denen ich die
weniger bedeutenden immer
wieder veräußerte, bis ich nach etwa 20 Jahren eine
Sammlung besaß, die mit das Beste darstellte, was die
Uhrmacherei früherer Jahrhunderte geschaffen hatte.
Leider kam ich nun bald an einen entscheidenden
Wendepunkt meiner Sammeltätigkeit. Ich war mit der
Zeit so anspruchsvoll geworden, daß mir nur noch das
Außergewöhnlich feine Graveurarbeit von Theodor de Bry. 16. Jahrh.
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