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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1930)
DOI Artikel:
Hochgesang, Michael: Vom Wesen neuer Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0029

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notwendig fordern würde. Melmehr verlangt neues Formgefühl zweckgebun-
dene Gestaltung, weil wir in unserer modernen Welterkenntnis Zwecke ernft
nehmen, auch die alltäglichen Zwecke und Zweckgebundenheiten. Andere Zeiten
haben folche Zwecke verächtlich beiseite geschoben.

Dieses Ernstnehmen des Zweckgemäßen ist nicht erst eine Eigenart des
20. Iahrhunderts, es ist das Charakteristikum der zweiten Hälfte des 19. Iahr-
hunderts. Materialismus, Darwinismns und ein Fortschrittsglaube, der letzte
Menschenziele in wissenschaftlicher und technischer Entwicklnng snchte, sind
damals auch in gebildeten Kreisen gepflegt und als lehte unumstößliche Weis-
heiten verbreitet worden. Aber durch den Historismus, durch die Pflege von
Stilformen ans allen Iahrhunderten suchte die Zeit noch derAnfgabe aus-
zuweichen, ihr Zweckgefühl in der künstlerischen Gestaltung der Umwelt sym-
bolisch auszuprägen. (In Mietskasernen und Fabrikbauten hat sie dagegen
einen schlechten Zweckstil frühzeitig gepflegt.) Insofern also der nene Stil
reiner Zweckstil ist, gehört er geistig fast mehr noch dem 19. als dem 20. Iahr-
hundert an, das ja vor allem in der Wissenschaft mit einer Auflehnung
gegen den Zweckgedanken schon in seinem ersten Iahrzehnt begonnen hat.
Nmr hatte man im 19. Iahrhundert hinter historischen Fassaden gebaut.
Das zwanzigste hat diese Fassaden abgerissen und die Nüchternheit an
den Tag gebracht.

Man muß sich einmal fragen, ob an modernen Zweckbauten wirk-
lich die Zweckklarheit die Anschauung befriedigt. Wie viele erkennen
denn den Zweck, ohne daß er ihnen im besonderen erläutert wird?
TroHdem fühlen wir und nehmen wir uns das Recht, zu beurteilen, ob die
Form dieses oder jenes Bauwerkes gut oder schlecht ist. Es gibt frühe Banken
des neuen Zweckstiles, wo die Zwecke jedes einzelnen Teiles die Form des
ganzen Bauwerkes bestimmen. Darum sind diese Bauken so unbefriedigend.
Sie waren Erperimente, Durchgangsßufen und sind längst überholt. Die
neue Bauweise seHt mit dem wiedergewonnenen Mut ein, zwischen der Be-
stimmung der einzelnen Bauteile nnd ihrer äußeren Form eine Spannung
walten zu lassen. Sie beginnt mit dem wiedererwachten Willen, jenseits der
besonderen Zwecke, ob es sich nun um Fabriken, Lagerhäuser, Silos, Wohn-
banten oder Berwaltungsgebäude handelt, im geßalteten Werk allgemein-
gültige Symbole zn schafsen, die Teile dem Ganzen unterzuordnen nnd dieses
Ganze nicht allein von seinen Aufgaben, sondern von einem großen zeitum-
syannenden Lebensgefühl bestimmen zn lassen.

Und was iß das Besondere neuer Bausymbolik? Sie erwächst nicht aus
der Nationalität, sondern aus dem wiedererwachten Wissen um die Irratio-
nalität des Raumes. Die neuen Bauten, jene in strengen, einfachen, mathe-
matisch klaren Umrisfen gestalteten Massen, sind Wahrzeichen menschlichen
geseHschasfenden Geisteö im irrationalen Naum. Eine Menschheit, die an die
Rationalität des Seins glaubt, seHt keine Leuchtfeuer und Fanale ihrer
geistigen Herrschaft, sie stellt an die Landstraßen und Wegkreuzungen des
Lebens keine logischen GeseHestafeln voll drohender Strenge, damit sie ge-
sehen werden. Sie ist sich des ganzen Ausmaßes ihrer Herrschaft nicht bewußt,
sie glaubt zu erkennen, zu entdecken, zu verstehen. Dieser Glaube ist heute er-
schüttert. Zuerst haben sich die Geisteswissenschaften frei gemacht von der

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