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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

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Heft 1 (Oktoberheft 1930)
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Michel, Wilhelm: "Wider die Ächtung der Autorität": Bemerkungen zu der neuen Schrift Friedrich Gogartens
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0081

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„Wider die Llchtung der AuLorität"

Bemerkungen zu der neuen Schrift Friedrich Gogartenö'

/^^ogarten geht hier gegen eine inoderne Meinung an, die die gefährliche Stärke

des Gerneinplatzeö, des nichL rnehr Beweisbedürftigen hat: daß Autorität und
Zwang verwerflich sind, daß der Mensch sich selbst gehört, daß alle Ordnungen, die
ihm Gewalt antun, unrnoralisch und vom Ubel sind. Man braucht diese Dinge bloß
zu nennen, um schon beim Wortklang zu fühlen, wie stark sie vom Denken und Wer-
ten der Gegenwart gestützt sind.

Wir reden zwar seit langem davon, daß der LiberalismuS des 19. Jahrhunderts
erledigt sei, aber es sind höchstens einige seiner Außenwerke gefallen. Sein Kernstück,
der Kult der freien Persönlichkeit samt einer ganzen Gruppe von Hilssmeinungen,
steht fast noch unerschüttert. Ia, im Abräumen aller autoritären Zusammenhänge
scheint heute erst das Endgültige zu geschehen. Von der haßvollen Verfluchung biS
zum Hohn und zum naseweisen Vorwitz reicht die Skala der Gesinnungen und Waf-
fen, die man gegen „Autorität überhaupt" aufgeboten hat. Mit dem Erfolg: sie
ist moralisch geächtet.

Was daS bedeutet, das holt Gogarten in seiner Kampfschrift heraus.

Er faßt die ethifche Erörterung von heute ins Auge. Sie dreht sich einmal um die
Frage „Was ist das Gute?" — und sie geht damit auf die begriffliche Bestimmung
des ethischen Grundwertes. Sie dreht sich zweitens um die Frage „WaS sollen wir
tun?" — und sie geht damit auf die praktische, handelnde Entscheidung, namentlich
in den großen politischen Fragen von heute, die Ehe und Familie, Beruf, Staat und
Wirtschaft, Schule und Erziehung betreffen.

Gogartens erste Entdeckung ist nun die, daß sich von dem heutigen Verständnis des
„Guten" aus die erwähnten Fragen nicht beantworten lassen; Fragen also, die in
schroffer Formulierung lauten: Ehe oder nicht? Staat oder nicht? Eigengesetzlich-
keit der Wirtschaft oder religiös-sittliche Bindung? Erziehung zur Freiheit oder
zum Gehorsam? Denn ganz allgemein versteht man „das Gute" heute als ein
Wie der Haltung, als eine Sache des rechten Einsatzes, des „guten Willens" der
freien, autonomen Persönlichkeit. Wo immer man aber den höchsten sittlichen Wert
als ein Wie bestimmt, da ist jede Brücke zum WaS abgebrochen. Es ergeben sich
weder Gehalte noch Grenzen: Wiederholung der Grunderfahrung, die wir mit allem
Impressionismus gemacht haben (dieser Vergleich reicht recht weit).

Vor der heutigen Ausfassung des „Guten" werden alle politisch-ethischen Ordnungen
(Staat, Familie) zu Erscheinungen, die dem geschichtlichen Wandel haltlos und gänz-
lich auSgeliefert sind. Irgendein kernhaftes Wissen vom Menfchen, irgendeine Be-
währung dieses Wissens in festem Ia und Nein kann auf diesem Boden nicht wach-
sen. Er ist Sumpfland und schlingt, was man auf ihn stellt, in bodenlose Tiefen.
Von da aus geht nun Gogarten diesem modernen Verständnis des „Guten" erst
eigentlich zuleibe. Das „Gute" — so meint diese moderne Auffassung — trägt der
Mensch in sich. DaS beweist sich dadurch, daß er sich stets unter der sittlichen For-
derung fühlt. In jedem „Du sollst", das unter Menschen auftaucht, erweist sich, daß
das Gute als Anspruch in ihm lebt. Und weil er es solchermaßen in sich trägt —
weil er es mindestens als eine Möglichkeit, als eine unendliche Perfektibilität in sich
trägt — muß er vor allem Freiheit fordern. Denn nur in der Freiheit kann er das
in ihm lebende Gute herausstellen. In den Worten HölderlinS, die hier zugleich
Worte der deutschen Klassik sind:

Denn liebend gibt

Der Sterbliche vom Besten, schließt und engt

Den Busen ihm die Knechtfchaft nicht.

* Erfchienen im Verlag E. Diederichs, Iena

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