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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

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Heft 4 (Januarheft 1931)
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Baur, Karl: Das steinerne Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0305

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in Deutschland noch keine „RückständigkeiL", wenn der König den künstlerischen
Jntnitionen Knobelsdorsss über den kommenden neuen Stil nicht ohne weiteres
zu folgen vermochte, zum anderen war der Klassizismus so viel und so wenig
„deutsche Baukunst" wie das deutsche Rokoko. Auch die von Friedrich dem Großen
korrigierten Fassadenpläne der Straße „Unter den Linden" können vom hoss-
nungslosen DilettantiSmus nicht ganz überzeugen, wenn man die Neuschöpfungen
der letzten Jahrzehnte an der gleichen Stelle damit vergleicht.

So sehr man dem Ankläger und Kritiker Hegemann angesichts von Tatsachen
auch zu solgen bereit ist, manchmal hat man doch den Eindruck, als slöge ein
Pfeil übers Ziel. Hat man so z. B. gelesen, wie sehr zum Nachteil einer gesunden
Entwicklung sich die Regierung des Großen Kursürsten oder Friedrichs des Großen
auf Bautätigkeit, Mietskasernenwesen, Bodenwucher usw. auswirkten, so über-
rascht andererseits solgendes: „An allen Großstädten überstieg im 16. Zahr-
hundert regelmäßig die Sterblichkeit die Zahl der Geburten. Nur in Berlin gab
es — so berichtet Nikolai — einzelne Iahre (1777, 1760, 1761, 1762), in denen
die Geburtenzahl die Zahl der Sterbefälle übertras."

Was mit gelegentlichen bissigen Liebenswürdigkeiten persönlicher Prägung immer
wieder auszusöhnen vermag, ist, daß HegemannS Spott oder Ironie gewürzt ist
mit Geist und Witz. Seine beruhigenden Ratschläge über die VeräußerungSmög-
lichkeiten deS Berliner Doms oder des eine ganze Epoche restlos charakterisierenden
Denkmals Kaiser Wilhelms I. sind nicht weniger erheiternd als seine Einführung
m Wesen und Bedeutung des MarmorpanoptikumS der Siegesallee.

Hegemann sieht die Geschichte Berlins bestimmt durch eine fast ununterbrochene
Kette bewußter und unbewußter Feinde einer organischen Entwicklung. Sicher
stand kein guter Stern über der heutigen Hauptstadt des ReicheS. Seit zehn
Iahren ist die wesentlichste Hemmung, die Hegemann aufzeigt: die Stadtpolitik
der Fürsten und eines oft recht unfähigen Klüngels, beseitigt. Viel NeueS und
Gutes ist in den zehn Iahren geschehen. Aber auch an Planlosigkeiten, Kurz-
sichtigkeiten und städtebaulichem Unsinn sind diese Iahre mehr denn voll. Der
Opernhausumbau, die neuen Museumsbauten und das städtebauliche Schildbürger-
ftück des „Ehrenhofs" sind einzigartige Beispiele. Ob in den großen siedlungs-
politischen Fragen die rechten Hände am Werk sind, ist abzuwarten. Bilder, die
vor Iahr und Tag durch alle Illustrierten gingen und zeigten, wie geschäftstüchtige
Bodenspekulanten weitab vom Berliner Stadtkern Boden für „Villenkolonien" mit
amerikanischen Methoden anboten und verkauften, stimmen auch den hoffnungs-
freudigen Beobachter besorgt.

Gesunde Großstadtpolitik gehört zu den Lebensfragen deS Deutschland von heute
und morgen. Wenn es einem großzügigen und weitsichtigen Städtebau gelungen
sein wird, die ungesunde und menschenunwürdige alte Mietkaserne umzugestalten,
wenn es gelingen wird, das Eigenheim wie in England durch kluge Boden- und
Geldwirtschaft und richtige Verkehrspolitik auch dem kleinen Mann zugänglich zu
machen, dann sind wesentliche Schicksalsfragen unserer Zukunft von selbst gelöft.
Die Lehre des „steinernen Sargs Berlin" fruchtbar zu machen im Sinne der
Aufgaben wahrhaft hauptstädtischer Kultur und wirklicher Führerschaft, nicht nur
im Sinne der Quantität, ist ein Ziel, das des Schweißes aller Edlen wert ist.
Es ist schwer, vor diesem Ziel nicht zum Pessimisten zu werden. Wenn etwas uns
aber diesem Ziel doch ein Stück nähergebracht hat, dann ist es Hegemanns Buch.

Karl Baur

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