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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1930)
DOI Artikel:
Dwinger, E. E.: Auf dem Baikalsee
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0065

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Alfred Rethel

Auf dem Baikalsee

Von E. E. Dwinger

fls wir Golonsinoje erreichen, ist Ljuba schon bewußtlos. Ilja gebärdet
^^sich irrsinnig. „Sie stirbt mir!" schreit er unablässig. Wir legen ihr
schneegefüllte Tücher auf die Stirn, bringen sie nach vieler Mühe wieder zum
Bewußtsein.

„Bald werden wir heiraten, Iljuscha!" lächelt sie erwachend.

Ilja wirft sich über ihre Füße, gräbt seinen Kopf in ihre Decken. Ich knie
an ihrem Kopfende, nehme ihr Handgelenk. „Hat jemand eine Uhr?" frage
ich. Kostja reicht seine herüber. Ich prüfe sorgfältig, gebe sie zurück. „Wie-
viel?" schreit Ilja. Wieviel, mein Gott? „Hnndertzwanzig", sage ich leise.
Aber ich habe hundertsechzig gezählt.

Gegen zwei Uhr tritt weiße Borke auf ihre Zunge, springen ihre schönen
Lippen klasfend anf. Ihre Hände sind jetzt voller Flecke, ihre Augen flackern
wie müde Brände. „Wasser... Wasser... mein Bräutigam!" flüsiert sie
hanchend.

Ich erinnere mich plötzlich der Zeit, da ihre Stimme noch voll und glocken-
haft war. Diese Erinnerung isi ein Stich, der unsäglich schmerzt. Ich sehe
ängstlich Ilja an, ob auch er...

„Wollen wir Hochzeit halten, Ilja, Liebßer?" fragt Ljuba plötzlich.

Kostja laufen die Tränen in kleinen Bächen über die Backen. Bereniki gleicht

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