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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

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Heft 6 (Märzheft 1931)
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Megerle, Karl: Wirtschaftliche Laienpredigt
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0462

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schon öfter gesagt worden, und es erübrigte sich, weiter davon zu reden, wenn nichr
die Tatsache vor uns stünde, daß die deutsche Wirtschaft sich anschickt, aufs neue
Konsumkraftpolitik zu treiben. Eine angesehene Berliner Zeitung, die der führenden
Wirtschaft außerordentlich nahe steht, ließ in ihrer NeujahrSnummer feierlich und
mahnend erklären, man solle sich bereit machen für den Start einer neuen Kon-
junktur. Wer weiß, ob wir nicht noch einmal in eine neue Daweskonjunktur hineirt-
taumeln. Nicht unsere Einsicht, sondern nur die Hartherzigkeit der auSländischen Geld-
geber scheint uns davor zu bewahren. Alles lauert auf den Augenblick, in dem der
Konsum wieder auflebt, in dem die Maschine wieder angekurbelt wird und der alte
Tanz um den Götzen aufs neue beginnt. Angesichts dieser Tatsachen und angesichts
der ungezählten Versuche, die Depression zu wenden — nenne man es Sanierung,
Lohn- und Preissenkung, Währungs- und Goldpolitik, Rationalisierung, Reform der
Arbeitslosenversicherung usw. -—, wagen wir eine Prophezeiung ins Gesicht der
wirtschaftlichen Fachleute: diese Krise wird in Deutschland auf keinem andern Weg
zu beseitigen sein, als auf dem natürlichen, aber grausamen und harten, daß wir so
lange sparen, hungern, entbehren, arbeitslos sein müssen, bis wir wieder das Brot
essen können, das wir erst verdient und bezahlt haben, und bis wir von dem weni'gen,
waS wir verdienen, auch noch etwas beiseite gelegt haben, um mit echtem Kapital
wieder produzieren zu können, und Zwar solche Dinge zuerst und ausreichend, die
zu des Lebens Nahrung und Notdurft gehören. Auf diesem Boden erst wächst jene
Kraft des Widerstandes und der Entbehrungskunst, die wir brauchen, um nach außen
frei zu werden. Und wenn wir nicht irren, werden sich die Besten der Nation, wird
vor allem die verantwortliche Jugend sich in dem notwendigen Stil der stolzen Armut
und der würdigen Entbehrung wohler fühlen als in dem verächtlichen dessen, der sich
in die Schlappheit der Prosperität flüchtet. Es fragt sich nur, ob die Wut der ent-
täuschten Massen und die Feigheit der Prosperierenden nicht größer ist als die Disziplin,
Kaltblütigkeit und Wahrheitsliebe derer, die nun die Aufgabe haben, Deutschland den
Weg der Desillusiom'erung zu Ende zu führen. Karl Megerle

Umfchau

Gesinnungslumperei

it diesem schönen Worte bezeichnet
unser politischer Jargon gemeinhin
einVerhalten,das in der Gesinnung je nach
dem Vorteil wechselt, das darin keine Zu-
verlässigkeit zeigt: kurzum, zu wenig
Gesinnung. Man hat diese Erscheinung
unbestrittenermaßen von jeher in Deutsch-
land an der Quelle studieren können, und
die Folgen liegen in der deutschen Ge-
schichte als klare Quittung zu Tage. Ge-
stnnungslosigkeit kann zwei Llrsachen ha-
ben, die häufig zusammen auftreten. Er-
stens eine allgemeine vital-moralisch-gei-
stige Schwäche, welche jedem Druck nach-
gibt und nicht imstande ist, von sich aus
eine feste Linie durchzuhalten. Und zwei-
tens eine tiefere Einsicht in die wirkliche
Verwicklung und weit hinauf reichende
Relativität der Dinge, also eine negative
Funktion von geistiger Aktivität, Objek-

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tivität und Ehrlichkeit. Nahezu alle Völ-
ker sehen sich selbst unter diesem letzteren
Aspekte, nämlich als den himmelblauen
Jdeologen, den die schlauen und zielbe-
wußten Nachbarn nach Gefallen ausbeu-
ten. Selbst in Frankreich ist diese Kate-
gorie der Selbstbetrachtung beliebt; ein
besonders schönes Beispiel lieferte noch zu-
letzt ein politischer Pastor im „Temps", wo
er am 16. und 2Z. Nov. igzo ausführ-
lich darlegte, wie die deutsche vergewalti-
gungssüchtigeBarbareiunddiefranzösische,
alle Selbsterhaltung überfliegende Jdeen-
gläubigkeit gleicherweise eine Bedrohung
des Friedenö bedeuteten. Man darf wohl
ohne Parteüschkeit sagen, daß in der deut-
schen Geschichte sich jene Erscheinung man-
gelnder Gesinnungskompaktheit in etwas
konzentrierterer Form studieren läßt.
Zweifelloö sind hier an ihr zu gleichen
Teilen jene organische Schwäche und eine
ungeheure zuchtvolle Gedankenarbeit auf
 
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