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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1931)
DOI Artikel:
Penzel, Hans: Die soziale Struktur Chinas in Vergangenheit und Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0681

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Die soziale Struktur Chinas in Vergangenheit
und Gegenwart

^^ahrtausende von Jahren bildete in China die Familien- und Dorfgemeinschaft die
^^-Grundlage für das gesellschaftliche, wirtschaftliche und innerpolitische Leben.
Parallel mit dieser soziologischen Struktur herrschte ein ähnlrch starres Gedan-
kensystem: der Konfuzianismus.

Ganz im Gegensatz zur Entwicklung des individualistischen Europa bestimmte in China
von Anfang an der Familien- und Sippen-Verband die wirtschaftliche und gesell-
schaftliche Entwicklung des Gesamtvolkes. Die Familie, in welcher der Wille des
verstorbenen Daters jeweils im noch lebenden Sohne weiterwirkt, forderte die bln-
terordnung deS Emzelnen zugunsten des Gesamtinteresses der Sippe nnd damit gleich-
zeitig auch des Staates. Das chinesische Dorf oder den chinesischen Staat mit den
gleichen Organisationsgebilden in Europa vergleichen zu wollen, wäre abwegig.
Für die Zeit noch lange vor KonfuziuS wird uns in den klassischen Büchern das
Dorhandensein von StammeSföderationen, zusammengefaßt im Tsing-Tien-System,
überliesert. Ae neun Familien derselben Sippe waren zu einer Produktiv-Gemein-
schaft zusammengeschlossen. Konsuzius lebte zu einer Zeit, die durch den Rückgang
der Stammesorganisationen und das Aufkommen einer Art Feudalsystem* verbunden
mit Knechtung und Ausbeutung der kleinen Pächter, zur Auflösung der Drdnung
führte. Die zahlreichen von den jungen Feudalherren aus Habgier geführten Kriege
entzogen der Landwirtschaft die notwendigen Arbeitskräfte und brachten das Reich
an deu Rand des Abgrunds. KonfuziuS (ZZi—v. Chr.) sah sich damals sehr
schweren Aufgaben gegenübergestellt. Seinem konservativen Grundsatz folgend, „sich
eng an das Alte halten und das Neue kennen lernen", entschloß er sich zu einer
Lösung, die einerseits auf die Beibehaltung des Clans Familiengruppe)**, an-
dererseits auf die Stärkung der Zentralgewalt abzielte. So hatte sich ein Wirtschafts-
und Gesellschaftssystem herausgebildet, das nach seiner Stabi'lisierung, d. h. vom
2. Jahrhundert v. Chr. ab, alle Stürme der Jahrtausende erfolgreich abzuwehren
vermochte und sogar bis über die Revolution von 1911/12 hinaus unverändert fort-
bestand. DaS Entscheidende war eben die „Dorfgemeinschaft", in der die einzelnen
Familien, ganz gleich, ob sie Grundbesitzer oder nur Pächter waren, zu einer Art
Gesamtschuldnerschaft vereinigt waren. Die Gesamthaftung aller Mitglieder der
Dorfgemeinschaft mit ihren Produkten erstreckre sich in gleicher Weise auf den vom
Einzelnen geschuldeten Pachtzins wie auf die zu entrichtende Steuer. Der Einfluß
der Feudalherren und Adelsgeschlechter war in China immer wieder zurückgedrängt
worden, bis sie schließlich alle durch kaiserliche Beamte ersetzt waren. Die Lehens-
fürstentümer sanken zu Provinzen herab. Die Zentralisation wurde aber vom Volk
als wohltuend empfunden, weil das Kaisertum milde, ja fast unmerklich regierte. Die
chl'nesische Beamtenschaft wurde nicht, wie in Europa, als Bürokratie empfunden,
da sie keine Fachausbildung in Bersuchung braichte, sich in die Sache der Bauern
allzu sehr einzumischen. Bielmehr waren die Beamten auf Grund literarischer Exa-
mina, in denen sie ein in der Tat unerhört umfassendeS Wissen im klassischen Schrift-
tum nachzuweisen hatten, zu diesen Posten aufgestiegen. Dieser chinesische Staat
der Jntellektuellen, mag er auch zeitweise in der vorrevolutionären Zeit zu Ausbeu-
tung und Korruption geführt haben, kam der statischen Bauernwirtschaft geradezu
entgegen, ja er entsprach als das Jdeal der „gelassenen untätigen Regierung aufs

* Über die Berechtigung der Anwendung des AusdruckeS „Feudalismus" auf die Derhälknisse
Alt- und Neu-Chinaö beftehen in Fachkreisen große Meinungsverschiedenheiten. Vgl. u. a. auch
„Oie Jmernationale", Zeitschr. ß Praxis u. Theorie des Marxismus. Zentrale für Zeitungs-
Derlage G. m b. H., Berlin. Zahrgang n, Heft 12, S. 44^ ch
" Dgl. S. 4ö des nachgenannten Werkes M. B. Roy.

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