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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1930)
DOI Artikel:
Muthmann, Peter: Alte und neue Jugendbücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0232

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Mte und neue Jugendbücher

'd^er große Klavierspieler Hans von Bülow sagte gerne: „Es glbt eigentlich
^^keine leichten Stücke; alles ist schtoer." Das kann man mutatis mutsncli^
auch auf die Jugendbücher anwenden: sind sie Kunstwerke, dann haben sie teil
an der Unfaßbarkeit, an dem Unendlichen; formen sie uralteö MenschenSgut — wel-
ches Lebensalter vermöchte den Gehalt dieser Klänge aus der Vorzeit ganz auszu-
denken und auszufühlen? — Es bleibt aber doch dabei, daß manche Stosse die
Jugend, eben weil sie erst in unsere Zivilisation h i n e i n wächst, besonders an-
ziehen, und daß das Fühlen und Denken des Kindes Phantasie ist, die sich erst
langsam mit Prosa durchsetzt: deshalb füllen Märchen und Sagen, Tier- und Aben-
teurergeschichten die Bücherborde der Kinderzimmer, seit es so etwaS wie Jugend-
literatur gibt.

Das altbekannte Märchengut, Grimm und Bechstein, Musäus, Hauff und
looi Nacht, wird unaufhörlich neu herausgegeben. Wir nennen die B e ch st e i n -
ausgabe mit guten Strichzeichnungen von Pötzelberger (Abel L Müller); wer die
alte mit den Bildern von Ludwig Richter haben will, findet sie gut gedruckt bei
Anton L Co. Eine Bereicherung ist die Anderse n-Ausgabe mit den Bildern von
W. H. Robinson (G. W. Dietrich); der Maler hat das leicht Pedantische, Sorg-
fältige, Biedermeierhafte, was Andersens Vortrag so graziös und seine Phantastik
erst glaubhaft macht, in seiner Arbeit auszudrücken vermocht. Daß es auch neben
und nach den „Kinder- und Hausmärchen" gute Märchenforschung gegeben hat,
davon überzeugt uns Ernst Lorenzen mit seinem Band „Versunkene Volks-
märchen" (Hegel L Schade), der aus den Sammlungen der Mit- und Nachstreben-
den der Brüder Grimm 7/s Märchen zusammenstellte, die in Gehalt und For-
mung neben Grimm bestehen können — womit viel gesagt ist. Natürlich wird
neben dem deutschen ständig auch vlel fremdeö Gut vermittelt. Hermann Hefele
hat nach einer holländischen Vorlage in „Umnandi" (Thienemann) eine Handvoll
Geschichten aus aller Herren Länder übertragen: eine japanische Fasfung des Däum-
lkngstoffeS, Westafrikanisches (das Beste!), SchottischeS, KorsischeS, alles ungemein
schlicht und plastisch erzählt, so daß schon 7—6 jährige folgen können.

Wie beim Volksmärchen, so ist auch bei der Sage der Vortrag das Entscheidende,
an dem sich der moderne Bearbeiter zu bewähren hat. Hier ist die Lage so, daß
uns aus den bekannten kulturhistorischen Gründen von der Dichtung des germani-
schen AltertumS nur ein ungeheures Trümmergeschiebe überkommen ist, das, künst-
lerisch g esehen, nicht viel besser aussieht, als die Schutthalden des Orients, aus denen
die Wissenfchaft versunkene Kulturen erstehen läßt. Um so mehr lockt das die Bear-
beiter. Nun hat die Germanistik seit 100 Jahren diese Trümmer durch ihre kom-
mentierten AuSgaben verhältnismäßig leicht zugänglich gemacht. Da viele durch ihre
Schule gehen, so ist die Zahl derer, die hier nach Schätzen graben, außerordentlich,
und bei manchen stellt sich gerne eine gewisse Seher- und Prophetenstimmung ein,
die, verbunden mit einer stark pädagogischen Haltung gegen das Heute, für die
Bearbeiter ihre seelischen Annehmlichkeiten haben mag. Dennoch muß gesagt wer-
den, daß, allen Waschzetteln zum Trotz, der große Dichter, der mit den ungeheureri
Stoffen der germanischen Heldensage fertig geworden wäre, noch nicht gekommen
ist. Jn der Zwischenzeit müssen wir uns mit dem Guten und Tüchtigen begnügen.

Da muß als erster stets Leopold Weber genannt werden, der seinen Heldenge-
schichten (Thienemann) die Waltharisage zugesellt hat und jetzt dabei ist, die
altisländische Sögur zu erschließen. Auf den „Gisli" hat er „Njal, der Seher"
folgen lassen, vielleicht die bedeutendste Saga deS Nordlandes. Hier hat man ver-
eint, was uns an der großen germanischen Überlieferung teuer ist, treueste Männer-
freundschaft, wortkarges Heldentum, tiefgründige Kraft deS Liebens und des HassenS

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