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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1930)
DOI Artikel:
Weissmann, Maria Luise: Die Bettina und Goethe: ein Versuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0048

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Die BettLna und Goethe

Ein Versuch

Von Maria Luise Weißmann

^^ic Vorrede, mit der Bettina von Arnim den „Briefwechsel Goethes mit
^-^einem Kinde" einleitet, beginnt mit den Worten: „Dies Buch ist snr
die Guten und nicht für die Bösen."

Es liegt eine merkwürdige Verwcchrung in diesem Satz, mit dem ein Mensch
sich gegen die Mit- und Nachwelt zu sichern sucht. Es liegt die ganze Ent-
schicdenheit eines glncklichen Temperamentes darin, das die Bettina trug,
gleichzeitig aber auch Unsicherheit, die eines Fragwürdigen, eines Anfechtbaren
sich dnrchans bewußt ist. Es liegt eine Spur von schlechtem Gewissen in
dieser Ablehnung der „Bösen", Berzicht auf die Gerechtigkeit, das Maß,
das diesem leidenschaftlichen Menschen bis zu seinem Ende fremd blieb. Mel-
leicht aber hat auch Bettina geahnt, wie schwer es sein würde, dieses Maß
an sie zu legen. Sie war vielleicht im Tiefsten aufrichtig genug, sich für die
Zukunft den Scharen sener einznordnen, die allein in ihrer Beziehung zu
einem Größeren gewogen werden, die in das Werk bezogen, allein gewogen
werden nach Hemmnis oder Verdienst an diesem Werk. Sie wnßte im
Innersten vielleicht, daß sie durch Goethe weiterleben würde, nicht durch sich
selbsi, und daß, weil niemand ihr Leben zu seinem eigenen Ursprnng ver-
folgen, niemand dem Gesetz seines Ablaufs würde nachgehen wollen, die
Liebe der „Guten" ihr unentbehrlicher sein würde, als die Gerechtigkeit der
„Bösen".

Warnm aber sollte man nicht, um dieser Gerechtigkeit willen, in der Nei-
gung und leichten Trauer einer nachdenklichen Stunde versuchen, diesen Be-
ziehungen in umgewandter Folge nachzugehen; nicht auf dem gebotenen Weg
Goethe—Bettina, sondertt dem unwichtigen anderen, dem zu keiner Vvll-
endung führenden, im Irdischen an kein Ziel gelangenden Weg Bettinas
zu Goethe?

Dies iß die Folge ihrer Begegnungen: das junge Mädchen, dreizehnjährig
aus klösterlicher Obhut entlassen, wird von dem Bruder Clemens der Dich-
tung Goethes zugeführt. Es liest; ohne Berständnis zunächst, aber mit
einer starken Ergriffenheit der Seele, an der allmählich Fähigkeit zur Auf-
nahme anch des Knnßwerks reift. Mit zwanzig Iahren liest Bettina zum
zweiten Male „Wilhelm Meisters Lehrjahre", — Mignons Gestalt er-
greift sie wesensverwandt. Mignons Selbstverzehrnng wird ihr das Maß;
noch ehe ihr Gefühl an einen Menschen gebunden ist, trägt sie schon in sich
die große Weite der Leidenschaft, hat sie schon Grenzen nnd Bewahrung über-
wunden. Jn dieser Zeit einer Hingabe, die doch noch Freiheit ist, wächst sie
an allem, was das Leben ihr zubringt, saugt sie in sich, was sie berührt; im
gleichen Maße, in dem ihr Geist sich bildet, wendet er sich immer von neuem
den Büchern Goethes als unerschöpflicher Ouelle zu.

So trifft sie das Schicksal: sie findet bei einem Besuch im Hause der Groß-
mutter Laroche Briefe Goethes, aus denen klar die Jnnigkeit seiner Bezie-
hung zu Maximiliane, der Mutter Bettinas, sich enthüllt: süßes und heißes
Erschrecken, in dem das junge Geschöpf zum ersten Male den Menschen er-

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