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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1931)
DOI Artikel:
Böhm, Hans: Frau Rat Goethe: zum 19. Februar 1731
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0331

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XXXXIV.

Frau Rat Goethe

Zum 19. Februar 17Z1
Von Hans Böhm

Baker und der Schwester hat Goethe in der Darstellung semes
^-^Lebens ansgeführte Charakterbilder gewidmet; beide Gestalten, längst
dahingeschieden, sügten sich leicht in den Rahmen seiner Iugenderlebnisse.
Auders die Mutter, die ihm stirbt, als er ins sechzigste Jahr tritt: sie zu ver-
gegenwärtigen verbietet ihm teils die übergroße persönliche und zeitliche Nähe,
Leils die Unsähigkeit des ins Typische wachsenden Alters, Individuelles feß-
zuhalten. In dieser Verlegenheit hat Goethe, nicht ohne künstlerische Beden-
ken, den Ausweg einer ungewöhnlichen Ehrung der Mutter versucht: ähnlich
den „Bekenntnissen emer schönen Seele" in den „Lehrjahren" und als eine
Art Gegenstück dazu sollte den Bericht des 18. Buches von „Dichtung und
Wahrheit" eine besondere Abteilung „Aristeia der Mutter" unterbrechen:
„wunderbare Auszüge aus einer Hauschronik, wie sie von einer jungen Fa-
milienfreundin aufgefaßt im liebenden Herzen verwahrt und endlich in
Schristen niedergelegt wurden". Es sind Bettinas Aufzeichnungen; als
diese sie sogleich nach Goethes Tod für ihren „Brieswechsel Goethes mit
einem Kinde" verwertet, hat Eckermann als Nnchlaßpfleger, gemäß dem
Willen des Dichters, den Einschub wieder entfernt. So hören wir von dem,
was der Sohn in Erinnerung und im Urteil über diese Frau zu sagen hatte,
nur einiges wenige in seinen mündlichen und brieflichen Äußerungen; dazu
kommen Mitteilungen ihrer Zeit- und Lebensgenossen, zwölf Briefe Goethes
an sie und 41Z Briefe von ihrer Hand*. Diese Briefe sind zwar nach Zahl
und Gehalt bedeutend genug, um Elisabeth Goethe einen hohen Rang unter
unsern Briefschreiberinnen zu geben; aber lückenhaft und zufällig erhalten, wie
sie sind (alle Briefe vor 1774 fehlen; von ihren Briesen an Goethe vor
1792 sind nur vier vorhanden!), erlauben sie bloß für Llugenblicke das Ge-
fühl persönlicher Nnhe; zudem: wenn jemand, so hat „Frau Rat" zu den
Nnturen gehört, die ihr Bestes im Gespräch und in lebendiger Wirkung von
Mensch zu Mensch geben. So iß es dem Nnchlebenden verwehrt, ein um-
fassendes Bild oder gar die Entwicklung dieser Frau zu zeichnen; er muß
zufrieden sein, sich manchmal zu ihrem Mitlebenden, zn ihrem Gegenüber
machen zu können.

Die Eingangsworte der „Aristeia der Mutter" nennen es „merkwürdig...
zu welcher Gestalt ein solcher Charakter gerade in der Hälfte des vorigen
Iahrhunderts sich ausbildete". Da stellt sich uns das „alte teutonische Frank-

* Gesammelt und erläutert von Albert Koeßer in zwei Bänden (Jnsel-Verlag); einbändige
AuSwahl von demselben daselbß.

Februarheft igzi (XXXXIV, 5)

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