ziehungen. Gerade angesichts einzelner Vertreter des älteren Geschlechts prägt
sich der GegensaH doppelt ein. Doch bleibt fraglich, ob die Gesamtbilanz dieser
Entwicklung mindestens fnr den Reisenden nicht eher begrüßenswert ist.
Der Franzose liebt es, alles, was er an äußerer Tüchtigkeit leistet, als „Larllis"
hinzustellen, als genialen unmethodischen Gnfall, der ohne sklavische Systema-
Lik in glücklicher Laune cms dem Ärmel geschüttelt wird. In Wahrheit han-
delt es sich da meist nur um eine nachträgliche Bekleidung eines sehr scharfen und
und zielklaren Willens mit einigen Gesten äußerlicher Lebendigkeit, welche
keineswegs so schlüssig auf innere Lebendigkeit führt, wie es der Franzose
wahrhaben will. Wie steht es aber mit wirklich innerer Lebendigkeit bei ihm?
2.
Lluch in dieser Hinsicht erwartet den Reisenden manche Überraschung gegen-
über der Vorstellnng, die er sich aus Büchern und Zeitungen gemacht hatte.
Lluch hier ist das Bild, das man sich im Ausland von Frankreich macht, allzu
stark von dem bestimmt, das man sich vom Franzosen nach dessen Wunsch und
Willen macht. Was das Ausland z. B. an französischer Kunst gesammelt hat,
war lange Zeit davon bestimmt, was im Lande selbst im Schwange war; erst
im 19. Iahrhundert emanzipierte man sich von dieser Bevormundnng und er-
hob die französischen Impressionisten auf den Schild, so daß man sie dann in
Frankreich selbst auch außerhalb von Llußenseiterkreisen bemerkte und schließ-
lich sogar, wenn auch zögernd, in die staatlichen Museen aufnahm. Angesichts
der starken Absichtlichkeit, mit der Frankreich sein Gesicht seit drei Iahrhun-
derten geformt hat, findet der Reisende gerade an Hand der Kunst ganz andere
Züge vor, als sie das ost'izielle Frankreich, Frankreich nach seiner orthodoxen
Selbstauslegung bietet.
Das große überwältigende Erlebnis ist das französische Mittelalter. Was weiß
man vom französischen Mittelalter? Man weiß von dem starken Einfluß,
der von der französischen Literatur ausging, man weiß, daß die Gotik in Frank-
reich entstand. Aber man „realisiert" diesen Gedanken gewöhnlich nicht. Man
empfindet immer wieder die Gotik als etwas spezifisch Deutsches, man denkt
an Eckehart, an Sebastian Bach und Hegel, an all die unausrottbar deutsche
Sucht nach Grübelei und geistigem Abenteuer, an jenen unstillbaren Über-
höhungsdrang, welcher doch in unerschöpfliche Frömmigkeit eingehüllt bleibt
— um dies als der Gotik Lief verwandt zu empsinden — gerade von Gipsel
zn Gipfel hinüber, etwa am Straßburger Münster, der SpiHe der Gotik, wel-
ches troH aller geistigen Annerionslust der Franzosen immer noch ein wesentlich
deutscher Ban ist. Und auch die Mißachtung, in welche die Gotik bei den
Franzosen seit langem gefallen ist, scheint zn erlanben, sich jhrer in diesem Sinne
anzunehmen. Oder man hilft sich wenigstens in der Weise, daß man, an den
bis Lief ins Mittelalter ausgesprochen germanischen Charakter Nordsrankreichs
denkend, die Gotik als ein germanisches Ding bezeichnet. Allein damit ist
nicht das Wesentlichste getrossen. Daß die Gotik germanisch-nordischer Art
ist, zeigt sich noch besonders daran, wie sie, nach Süden ins Romanische vor-
dringend, Kraft und innersten Sinn verliert — wie andererseits die Romanik
im germanischen Gebiet ihrer Liefsten Mngie sich entkleidet und zu einer bloß
unentfalteten, eher trockenen Borstufe der Gotik wird. Allein das germanische
162
sich der GegensaH doppelt ein. Doch bleibt fraglich, ob die Gesamtbilanz dieser
Entwicklung mindestens fnr den Reisenden nicht eher begrüßenswert ist.
Der Franzose liebt es, alles, was er an äußerer Tüchtigkeit leistet, als „Larllis"
hinzustellen, als genialen unmethodischen Gnfall, der ohne sklavische Systema-
Lik in glücklicher Laune cms dem Ärmel geschüttelt wird. In Wahrheit han-
delt es sich da meist nur um eine nachträgliche Bekleidung eines sehr scharfen und
und zielklaren Willens mit einigen Gesten äußerlicher Lebendigkeit, welche
keineswegs so schlüssig auf innere Lebendigkeit führt, wie es der Franzose
wahrhaben will. Wie steht es aber mit wirklich innerer Lebendigkeit bei ihm?
2.
Lluch in dieser Hinsicht erwartet den Reisenden manche Überraschung gegen-
über der Vorstellnng, die er sich aus Büchern und Zeitungen gemacht hatte.
Lluch hier ist das Bild, das man sich im Ausland von Frankreich macht, allzu
stark von dem bestimmt, das man sich vom Franzosen nach dessen Wunsch und
Willen macht. Was das Ausland z. B. an französischer Kunst gesammelt hat,
war lange Zeit davon bestimmt, was im Lande selbst im Schwange war; erst
im 19. Iahrhundert emanzipierte man sich von dieser Bevormundnng und er-
hob die französischen Impressionisten auf den Schild, so daß man sie dann in
Frankreich selbst auch außerhalb von Llußenseiterkreisen bemerkte und schließ-
lich sogar, wenn auch zögernd, in die staatlichen Museen aufnahm. Angesichts
der starken Absichtlichkeit, mit der Frankreich sein Gesicht seit drei Iahrhun-
derten geformt hat, findet der Reisende gerade an Hand der Kunst ganz andere
Züge vor, als sie das ost'izielle Frankreich, Frankreich nach seiner orthodoxen
Selbstauslegung bietet.
Das große überwältigende Erlebnis ist das französische Mittelalter. Was weiß
man vom französischen Mittelalter? Man weiß von dem starken Einfluß,
der von der französischen Literatur ausging, man weiß, daß die Gotik in Frank-
reich entstand. Aber man „realisiert" diesen Gedanken gewöhnlich nicht. Man
empfindet immer wieder die Gotik als etwas spezifisch Deutsches, man denkt
an Eckehart, an Sebastian Bach und Hegel, an all die unausrottbar deutsche
Sucht nach Grübelei und geistigem Abenteuer, an jenen unstillbaren Über-
höhungsdrang, welcher doch in unerschöpfliche Frömmigkeit eingehüllt bleibt
— um dies als der Gotik Lief verwandt zu empsinden — gerade von Gipsel
zn Gipfel hinüber, etwa am Straßburger Münster, der SpiHe der Gotik, wel-
ches troH aller geistigen Annerionslust der Franzosen immer noch ein wesentlich
deutscher Ban ist. Und auch die Mißachtung, in welche die Gotik bei den
Franzosen seit langem gefallen ist, scheint zn erlanben, sich jhrer in diesem Sinne
anzunehmen. Oder man hilft sich wenigstens in der Weise, daß man, an den
bis Lief ins Mittelalter ausgesprochen germanischen Charakter Nordsrankreichs
denkend, die Gotik als ein germanisches Ding bezeichnet. Allein damit ist
nicht das Wesentlichste getrossen. Daß die Gotik germanisch-nordischer Art
ist, zeigt sich noch besonders daran, wie sie, nach Süden ins Romanische vor-
dringend, Kraft und innersten Sinn verliert — wie andererseits die Romanik
im germanischen Gebiet ihrer Liefsten Mngie sich entkleidet und zu einer bloß
unentfalteten, eher trockenen Borstufe der Gotik wird. Allein das germanische
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