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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

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Heft 3 (Dezemberheft 1930)
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Stoessel, Otto: Anna Croissant-Rust: (zum 70. Geburtstage)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0236

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nentum, die „Butzenscheibenlyrik", der historische Nornanschmöker (er feiert heute
fröhliche Urständ) und die Gesinnung, nicht bloß der Geschmack, denen dies alles
entsprang und entsprach, waren zu bekämpfen.

Alle diese jungen „Modernen" hatten — entgegen dem eleganten, jungen Osterreich

_ etwas Hartes, sie waren von Jbsenscher Weltkritik, von ZolaS schwerfälliger

Wirklichkeitsfanatik und -romantik erzogen, ihr Gemüt einem rauhen Weltgefühl
eröffnet. Auch die bildende Kunst folgte allenthalben der gleichen Richtung: Meunier
entdeckte die Schönheit deS Arbeitsmannes, Uhde die Heiligkeit des bäuerlichen Chri-
stentums. Die Erinnerung an die Verstorbenen dieser Anfänge ist jetzt verdunkelt,
wie immer, wenn eine Aera von der Tätigkeit einer zweiten, ja einer dritten Gene-
ration überwachsen ist, deren Leben und Streben das Frühere selbst vergessen und in
Vergessenheit bringen will, um sich allein geltend zu machen. Und die Uberleben-
den! Welche Veränderungen haben sie erfahren und wie weit sind die meisten von
ihren einstigen Grund- und Glaubenssätzen abgekommen! Jn anderen Gestalten
und Gebilden sind Romantik, Uberfeinerung, neue Klassizität, alte Tradition, Rich-
tiges und Falsches, HalbeS und Ganzes zurückgekehrt, und wie immer hat sich Un-
echtes vorgedrängt und breitgemacht, ist BedeutendeS still auf- und schon wieder
untergegangen, die „Schmach, die Unrecht schweigendem Verdienst erweist", lebt
und quält fort, und man kann nur hoffen, das in seiner Weise Treffliche werde in
einer gerechteren Zukunft durchdringen.

Anna Croissant-Rust wird am zehnten Dezember siebzig Jahre. Sie trat in den An-
fängen dieser deutschen naturalistischen „Moderne" hell hervor, willkommen und
bewundert als ihre einzige bedeutende Frau und Dichterin, als Talent und starker
Charakter. Sie hat ihre Anschauung und ihre Stoffe, ihren Wirklichkeitssinn, ihre
Freude am Zuständlichen, ihre ungesuchte Arbeitsweise, ihre einfache, zugleich derbe
und treue, zugreifende und ungescheute Darstellung nie verändert, die ohne viel
Näsonnement, ohne feine Dialektik, durch das richtige Gefühl, durch den unverküm-
merten Blick das Wesentliche, das Ganze traf. Verfeinerungen, ästhetischen Ver-
zärtelungen, den Versuchungen einer „höheren" Sphäre ist sie nie erlegen, obschon
sie den Wert solcher Leistungen bei anderen gar wohl zu schätzen und die Personen
und Werke, die es verdienteu, zu lieben und zu verstehen wußte, denn ihre ausge-
zeichnete fgntelli'genz machte sie immer teilnahmövoll und dadurch höchst anziehend
für einen weiten MenschenkreiS aller geistigen Arten. Nur für ihre eigene Arbeit
blieb sie in dem ihrigen, i'n dem rein gezogenen und unverrückbaren KreiS ihrer Mög-
lichkeiten, ihreS Könnens, blieb darin ehrlich und zuverlässig, und darum sicher und
gleichgewichtlg, eine ruhig m sich gsschlossene Natur, eben Natur auch in ihrer Kunst:
Persönlichkeit. Gerade diese höchste Eigenschaft, die anders gesehen Unbeugsamkeit
heißen mag, benachteiligte sie im äußeren Leben. Jhre weiblich bescheidene Znrück-
haltung verschmähte eS, sich im Wettbewerb vorzudrängen; so kam sie in den Hinter-
grund, und das allgemeine Vergessen, das ihre AlterS- und Zeitgenossen ereilt, be-
droht auch sie. Es sind nicht bloß die neuen Bestrebungen und die Unmasse der
Werke der folgenden beiden Generationen, die beim Publikum diese Gleichgültrgkeit
hervorrusen, auch die allgemeine Geist- und Kunstfeindlichkeit von heute ist es nicht
allein. ffse mehr ^zahre seit der Weltkatastrophe vergehen, desto entsetzlicher wird die
Kluft sichtbar, die sie in ganz Europa, nicht nur in Deutschland zwischen der Ver-
gangenheit und Gegenwart aufgerissen hat, auch wo künstlerische Bestrebungen und
Teilnahme dafür noch bestehen. fgnfolge der Überwertung der Technik und ihres
ZerstörungStriumphs im Weltkrieg ist bei seiner ohnehin langnachwirkenden allge-
meinen Entfesselung deS Trieblebens in den Menschen unserer Tage eine Sucht nach
dem Außerordentlichen, Unerhörten angefacht, die auch in der Kunst nur daS eigent-
lich Krisenhafte, das ungewöhnliche Elementare und Katastrophale von Verhältnissen
verlangt, wie sie im Kriege gewöhnlich und vertraut geworden sind: den bestänöigen

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