Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI issue:
Heft 4 (Januarheft 1931)
DOI article:
Simmel, Gertrud: Normen des Handels
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0295

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Christliche gewachsen isi! Es sind Wahrheiken für den Menschen, für
jeden Menschen, unabtrennliche von dem Prinzip Mensch; unabkrennliche
eben darum, weil sie nicht irgendwoher kommen, sondern aus ihm hervor-
gehen, mit ihm gegeben sind, weil er sie selber isi; und auf sie hören muß,
wenn er die Tiefe nnd den ReichLum seines Wesens wahrmachen, ausbreiLen,
erschögfen, ja hervorbringen will — die Tiefe und den ReichLum seines We-
sens, „wie GoLL ihn gedachL haL". Wahrheiken, nichL LheoreLische WahrheiLen;
die nun dieGestalL von Nvrmen nnd Gesehen annehmen — denen er die Ge-
stalL von Normen und Gesehen gibL; in ihrer GestalLung als solche sind sie Se-
knndäres, Anfechkbares, Verwandelbares, vergänglich wie aller Ausdruck.

— Wenn wir sagen: das Wesentliche in uns, das GoLLgewollLe, das GoLLge-
dachke, das mekaphysische Prinzip Mensch — so sind das alles Ausdrücke, in
denen wir ein Unansdrückbares umschreiken, umfühlen, einzuschließen nnd
endlich zu fassen suchen, das unfaßbar bleibL. Auf das die Neligionen hin-
weisen — darnm LrägL man die Ansdrücke aus den Neligionen zusammen,
wenn man es fühlbar machen will. GoLLeskindschafL, die Mächtigkeit der
Seele, ein letzkes Sein. —

Der christliche GotL ist die Iristanz, der wir unser Sein veranLworken

— das iß er, das ist seine Definition, darum hat die Seele ihn sich ge-
schaffen. 2lnch er ßehL als der Anredbare, als der, zu dem man beken kann,
auf einem anderen Plane, als das Unahnbare, Ilnanredbare, das uns in sich
enthälk (wie er auch auf einem zweiten Plan siehL als der, der Person ist, der
die Vorsehung ist, der uns belohnL und bestrafL und der nnsere Schicksale
lenkL). Es iß uns nichL gegeben, Glauben auszusprechen — nichL, was wir
glauben, ja kanm, daß wir glauben; wir können nur immer in Übersetzungen
reden. Der ChristengoLL ist die Jnßanz für das Sein; das sich auf „GotL"
beziehL — nichL auf die GemeinschafL —, das sich auf sich selbst bezieht, miL
dem die Seele vor ihrem GoLLe stehL und nn'L ihm allein ist; das ist das
ünzerstörbare, das nichL Umbringbare an der Iesulehre. Christi GeßalL be-
deuLeL ein gültiges Sein; Iesus sagL uns nichk, was wir Lun sollen. In der
GestalL Christi, in der Verehrung Christi liegL das MomenL des gülkigen
Seins — aus dem das Tnn hervorfließL, auch das bürgerliche Tun. Es is!
das Gegenchristliche: jenes LheoreLische Suchen nach HandelnsgeboLen.
Gegenchristlich, damiL meine ich das, was das Niveau der großen christlichen
Konzegtion von dem Seinsgotte nicht mehr erreicht, ob man nun an den
ChristengoLL im wörtlichen Sinne glaubL oder nicht an ihn glaubt. Es er-
zeigL sich, daß ein Niveau verloren ist, das die MenschheiL besessen haL. —
Um auf unser Beispiel zurückzukommen: so häLLe man also das Mädchen zu
verurteilen, das doch — nach unserer Voraussetzung — aus Liebe zu den
Ihrigen, zum Beßen der Ihrigen das Schmntzige gekan haL?

Mit dem UrLeilen und Verurteilen ist wenig getan. Dergleichen Taten ßellen
das ChaoLische dar in der WelL, oder in dem Menschen, der doch irgendwie
znm Kosmos strebL. Ienes Tun ist so moralisch oder nichL moralisch, wie wenn
Menschen in heulender Angst um ihr Leben die Kinder dem Moloch in den
glühenden Rachen warfen. In der Verzweiflung werden Menschen der-
gleichen Lun. Es ist ein wildes Tun wie anderes auch, und eine Gruppe mag
eine Frau hinwerfen, wie sie ein Opfer vor die wilden Tiere wirsL; oder die

2-49
 
Annotationen