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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1931)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Nein und Ja zur Kunstpflege
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0503

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der für uns verpfll-chLeuden Menschengeftalt — und deshalb haben wir ein
solidarisches Interesse an der Kunsi. Es ist das Interesse daran, daß Leben und
Geist beieinander bleiben in derjenigen Art und Innigkeit der Gesellung, die
sür uns die biologisch richtige ist.

Ja selbst wenn wir den ungehenren Gedanken fassen müßten, daß wir an eine
grundlegende Strukturveränderung der Menschengestalt bedrohlich nahe heran-
gerückt seien, wenn die heutigen Kunstzweifel nicht nur als vorübergehende
Gleichgewichtsstörungen in unserem biologischen System zu lesen wären, sondern
als Anzeichen eines schon begonnenen Nrubaues — selbß dann nnd gerade
dann müßten wir der Kunst mit ihrem ständig lösenden, ausgleichenden, über-
sührenden, aller Genese so innig angegaßten Wesen die Treue Halten. Wir
müßten dann die Worte Hölderlins aus der Titanen-Hymne vor nns hinstellen,
die so viel um jede mögliche „Katastrophe" wissen, unter anderem auch das, daß
alles Geschehen hiHig und verzehrend wird, wenn es an „Gesang sehlt", der
„löset den Geist".

Wir haben ja in winzigem Maßstab den Versuch gemacht, ohne „Gesang" zu
leben, uns mit Reportage und Zeitstück aus dem Theater und sonstwo zu be-
helfen. Es ist nicht gegangen und es konnte nicht gehen, weil Bestandausuah-
meu, die uus blöde ins Gesicht stieren, nicht das Maß des heutigen (des seit
Iahrtausenden heutigen) Menschen haben, weil sie nicht in den Meuschen ein-
dringen und nicht assimiliert werden. Leben, Wirklichkeit — ja, die dringen
uns ins Wesen, wenn wir ossen und geistesmächtig, also irgendwie „Künstler"
sind. Llber Kunst, der nicht zugleich die verarbeitenden Kräfte zugeseHt
sind — das gibt eine unmögliche, eine närrische und unerträgliche Situation.
Wo einer spricht, da muß er eben „sprechen", d. h. Wirklichkeit in der Bindung
an die Deutung aussagen; sonst ist die Situation nicht ersüllt. Heute, wo die
Lyrik sast völlig verstummt ist, bleibt es so wahr wie vor tausend Iahren:
nur „Gesang" macht das Sonderbare und Dunkle, das wir leben, menschen-
sörmig und damit wirklich.

Wir haben leicht davon reden, daß man Theater, bildende Kunst und Dichtung
dem Berderben, das aus sie lauert, doch nur ruhig greisgeben möge; es werde
schon nicht so schlimm werden. Es kann sein, daß Mut und Kühnheit in solchen
Gesinnungen stecken. Es kann auch sein, daß Unbesonnenheit und Ilnmenschlich-
keit darin liegen. Aus jeden Fall ißt das eine zu bedenken, daß wir die Ersah-
rung eines der Kunst entledigten Daseins noch nie gemacht haben und daher
keine halbwegs begründete Vorstellung davon haben, was dann „wird". Wir
haben nie ein Dasein geleöt, dem die Kunst nicht ihre ofsenen und geheimeren
Dienste erwiesen hätte. Aber man gebe nur einmal all den Krästen das Feld
srei, die sich sosort über die Geister herstürzen werden, wenn die Kunst zurück-
weicht — so würde man wahrscheinlich sehen, wie nahe in Wirklichkeit immer
die Verwilderung vor den Toren der sogenannten Kultur lauert. Unsre ganze
Welt ist aus ständige Aktion, aus ständige, tätige Gegenwehr gegen das
Wilde, Barbarische und gegen das Dürre, Austrocknende gebaut. Was wir
Kultur nennen, lebt nicht nach Art eines ruhenden Sachgesüges, sondern nach
Art eines Flugzeuges, das schwebt, solang Krast die Tragflächen im Winkel
gegen die Luftmassen treibt. Wo irgend diese Krast ausseHt, kommt automa-
tisch der Sturz.
 
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