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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1931)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Neue Bewußtseinsbildung in der Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0655

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unerschüktert auszuharren, sie deutlich bei ltkamen zu rufen und so — wer
weiß? — ihre Überwindung vorzubereiten. Es ist gerade der strenge fran-
zösische Rationalismus, der diese schroffen, glastischen Begegnungen von Be-
wußtem und Unterbewußtem, diese abgezirkelten „Strndelbildungen" im Be-
wußtsein hervorruft oder mindestens ermöglicht. Verstand und Ichgefühl
können sich beim Franzosen dnrchgehends viel greller und hartnäckiger aus
der Lebenstotalität herausheben als bei uns, deshalb fallen ihm die ge-
nannten Überschneidungen gestalthafter in die Sinne — während wir
die Bewußtseinskonflikte mehr als Aufruse erleben, die gefährdete Einheit
des Bewußtseins alsbald wieder herzustellen; wenigstens in der Kunst.
Deshalb finden sich auch die literarischen Entsprechungen zu dem, was
die genannten Pariser Maler tun, außerhalb Dentschlands viel zahlreicher
als innerhalb. Wir hätten vielleicht von deutscher Seite „Berlin-Alexander-
plaß" von Alfred Döblin zu nennen — aber wieviel schärser prägen sich
jene Überschneidungen bei Panl Balery, bei Andre Gide („Falschmünzer"),
Iean Cocteau und anderen aus, nnd wie noch viel weitgehender bestimmen
sie eine ganze Gruppe englischer Autoren! Da stehen neben Ioyce
namentlich D. H. Lawrence und Rose Macaulay, bei denen ausdrückliche
Einflüsse der Psychoanalyse vorliegen, dann Birginia Wools und Dorothy
M. Richardson, die den Roman völlig entfabelt und aus die Momentanität
des Bewußtseins gestellt hat.

Eine Fülle höchst fesselnder Gestaltung sieht man da sich entwickeln aus
einem Borgang, den man nach seinem äußeren Befund sicherlich einen B e -
Wußtseins-Zerfall nennen kann, der aber nur die Borstufe einer
nenen Bewußtseinsbildung ist. So apokalyptisch die Perspektiven heute vor
uns stehen mögen: es ist unmöglich, anders darüber zu denken, als daß die
heutigen seelischen Widersprüche unser Bewußtsein nicht in alle Zukunft
beherrschen, sondern einmal einer neuen Einheit des Bewnßtseins
weichen werden. Was heute zerfällt, ist nicht das Bewußtsein schlechthin,
sondern das „euklidische" Bewußtsein, das sich als zu eng erwiesen hat,
um die aus dem Makro- nnd Mikrokosmos, ans Höhen und Tiefen heran-
drängenden Elemente in sich zu fassen. Ob wir wollen oder nicht: wir müs -
sen über den Zaun sehen, der uns bisher nmschloß, wir müssen ihn nieder-
legen, um ihn in größerem Umkreis wieder auszubanen. Der Zaun dars aus
die Dauer nur an der wirklichen Grenze entlang ziehen, also da, wo das
faktisch Unbetretbare beginnt. Für uns ist heute vieles Land senseits des
bisherigen Bewnßtseins betretbar geworden. Was die Seelenkunde, die
Physik, die Astronomie und Archäologie herbeigetragen haben, zeigt klar,
daß dem modernen Bewußtsein Meles „zugehört", was es bis jeHt faktisch
noch nicht besiht. Die Welt, die dem Menschen „gehört" (im Sinne eines
ihm Zuwachsenden und Zugeordneten) ist heute größer geworden als dieser
Ncensch selbst. Er muß nun seinerseits „größer", d. h. mindestens weiter
werden, um den neuen BesiH verwalten zu können. Hente spalten ihn
noch die Kontraste, die von ihm beherrscht werden wollen;
er muß über sie gelangen, um sie zu nmfassen.

Wenn dieses Ziel erfordert, daß die heutigen Spannungen mntig ins 2luge
gefaßt nnd assimiliert werden, so daß eine bestimmte nene Lage entsteht,
 
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