Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 1.1885-1886

DOI Artikel:
Pecht, Friedrich: Die Berliner Jubiläums-Ausstellung, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9416#0320

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
250

Dle Verlincr Iulnlaums-Ausstellung.

Bon Fr. Pecht
I.

o kommen wir her, wo treiben wir hin? Darüber erwartet wohl jeder, bewußt oder unbewußt, eine Ant-


wort, der die den neuesten Osfenbarungen des schaffenden Geistes unseres Volkes in Berlin neu erschlossenen
Räume betritt. Wenigstens jeder, der da weiß oder sühlt, daß die Kunst der höchste Ausdruck unseres natio-
nalen Lebens ist oder doch sein sollte, daß sie uns also unfehlbar zeigt, was sich vorbereitet in demselben oder
was abstirbt. Wer fühlte es darum nicht, daß diese erste große Ausstellung im Herz des neuen deutschen
Reiches eine weit über das Gewöhnliche hinausreichende Bedeutung habe?
Wir in Deutschland sahen bis jetzt nur drei solcher großen, epochemachenden Unternehmungen. Tie
srüheste war jene „allgemeine deutsche und historische Ausstellung" des Jahres 1858 in München. Damals
sah die eben unseliger als je znvor zerrissene und in ihren berechtigtsten Erwartungen bis zur Hoff-
nungslosigkeit getäuschte Nation zum erstenmal mil Entzücken, welche ungehenren Fortschritte sie trotz alledem
in ihrer Verschmelzung zu einem organischen Ganzen, in der Erringung jener inneren Einheit gemacht hatte,
von der die äußere ja nur die notwendige Folge ist. Sie lernte da eme gute Zahl ihrer geistigen Führer in
diesem Kampfe erst kennen und lieben, wie sie einen großen Teil der Kluft erst ausfüllte, die unsere einzelnen
Stümme noch von einander trennte. Denn gerade die spezifisch deutschen Künstler, die Führich, Alfred
Rethel, Schwind, Preller, Lessing, Menzel, Knaus, Ramberg wurden alle da der Nation erst
recht bekannt. Da erst wnrde jedem klar, daß sie uns eine wahrhaft nationale Kunst bereits geschaffen hatten,
Darum gab es denn auch niemand unter den Hunderttansenden, sdie jene Ausstellung besuchten, der nicht
stolzer nnd gehobener, freudiger und hoffnungsvoller den Münchener Glaspalast verlassen hätte, als er ihn
betreten. Denn wie ein Heer seine Fahnen, so braucht ein Volk seine Heiligtümer; der Fanst. der Wallenstein
und Tell sind es, die uns bei Leipzig und Sedan zum Siege sührten, der ohne sie unmöglich gewesen wäre.
Oder sind es nicht Homer und Phidias, die den Griechen ihre Siege, Raffael und Michel Angelo, die den
Jtalienern die Freiheit nnd Einheit ersochten haben, wie sie ihnen täglich noch Tausende erobern durch den
magischen Glanz, den sie über ihr Land zu breiten verstanden?
Die zweite dieser sür uns hochbedeutenden Ausstellungen fand in Paris 1867 statt. Da trat diese
bis dahin von allen anderen Nationen sast ignorierte deutsche Knnst auf einmal mit einer Jugendsrische auf,
daß man von ihr gerade neben der glänzenden, aber alternden französischen behaupten konnte, daß sie einem
mächtig aussteigenden, kampfbereiten Volk angehöre, daß sich bereit mache, den ihm gebührenden Platz in der
Welt endlich wieder einzunehmen.
Die dritte war die hauptsächlich knnstgewerbliche Ausstellung, welche 1876 in München stattfand.
Von ihr her datiert der Aufschwung des deutschen Kunsthandwerks und die allgemeine Einführung der deutschen
Renaissance. Nachdem wir noch 1867 in Paris so gut als gar kein, in Wien 1873 nur erst ein ziel- und
stilloses Kunstgewerbe gezeigt, überraschten wir damals in München alle Welt durch die kolossalen Fortschritte,
welche die Einwirkung unserer weit vorgeschrittenen Kunst auf das Handwcrk bercits hervorgebracht. Aller-
dings gehörte ein großer Teil dieser Fortschritte unseren österreichischen Brüdern, aber der Zwischenranm, der
uns von ihnen trennte, ist seither längst aufgehoben worden.
Heute nun stehen wir wiederum vor einer hochbedeutenden Entscheidung.- denn nun muß es sich zeigen,
ob durch die fünfzehn Jahre, die ieit der Zusammenfassung der Deutschen zu einem großen, mächtigen Reich
vergangen, ihre innere Umbildung zu einer wirklichen Nation, d. h. zu jener Stärke und Gemeinsamkeit des
Empfindens, die allen Erzeugnissen eines Volkes gewisse charakleristische Züge anfdrückt, bei uns zu oder abge-
nommen habe, ob wir uns innerlich verschmelzen oder wohl gar wie loser Sand immer wieder auseinander
fallen? Die Vergleichung wird uns diesmal besonders erleichlert, da die gegenwärtige Ausstellung sowohl eine
retrospektive als internationale ist. Wir können also unsere hentige Prodnktion sowohl an der Vergangenheit,
als an der Kunst unserer Nachbarn messen.
Was können Dir aber die Bilder an den Wänden darüber für Auskunst geben, ob wir vor- oder
rückwärts gehen, sragt wohl mancher. Nnn, genau dieselbe, die der Puls des Patienten dem Arzt gibt. Sie
sagen nns, ob unser nationales Leben stärker oder schwächer, unsere ideale Welt gemeiner und niedriger oder
höher nnd edler, nnsere sitilichen Begriffe seiner und menschlicher oder roher und gröber gewovden sind, ob
wir als Volk in all' diesen Stücken hinter anderen Nationen zurückblieben oder ihnen vorausgehen. Dergleichen
Untersuchungen sind aber schon darnm nicht sruchtlos, weil sie unsere Zuversicht und unser Selbstvertrauen,
wie unsere Vaterlandsliebe stärken, wenn das Ergebnis ein günstiges ist, wie sie uns zum Widerstande reizen
nnd unser Gewisscn schärsen, wcnn sie nns zeigcn, daß wir zurück statt vorwärts gehen, daß jene Gemeinsamkcit
des Empfindens, welche die Stärke der Nationen ausmacht, ab- statt znnehme.
 
Annotationen