9S
Aus meinem Leben.
Von Arlbur Fltger.
H^>ein Vater war Postmeister, und vvr unserem Hause
wurdeu täglich sechs vierspännige Posten mit den dazu
gehörigen Beiwagen umgespannt; Extraposten und mancherlei
anderes Fuhrwerk ungerechuet; vierzig Pferde standen in
den verschiedenen Ställen. Da auch die Briespost im
Hause besorgt wurde, pflegte die Thüre niemals geschlossen
zu sein, und ein beständiger Malstrom von Zugwiud brauste
über die Hausflur. Mit der Zeit stieg die Zahl der
Kinder auf zwölf, von deueu nur eines im zarten Alter
starb. Eine Menge Knechte und Mägde, ein paar Post-
sekretäre und dazu eiu reger Verkehr von Reisenden, die
speisen und logieren wollten, — man kann sich denkeu, daß
es bei uns bunt und tumul-
tuarisch genug zuging. Wie
meine Eltern in diesem rast-
losen Wirbel nicht nur stets
den Kopf oben behalten, son-
dern, jedes in seiner Art,
auch ein über das gemeine
Bedürfnis des Tages hoch
hinausstrebendes Jdeal im
Herzen bewahren konnten,
das ist mir noch oft ein
Räthsel. Mein Vater pflegte
die Vormittagsstunden, d. h.
die Zeit der langsam heran-
drängenden Brandung, da
seine Gegenwart unschwer
entbehrt wurde, zu ver-
schlafen, erst gegen zehn, halb
elf wurde er sichtbar und
ergriss das Steuer, das er un-
ausgesetzt bis tief in die Nacht
führte: wenn dann aber
Alles zur Ruhe war, lag er
seiner Lieblingsbeschäftigung,
der Astronomie, ob, beob-
achtete mit seinem Fernrohr
den Himmel und studierte da-
bei die populärwissenschaftli-
chen Werke von Littrow und
Mädeler: der Kosmos von
Humboldt war ihm eine Art
heiligen Buches. Er soll,
wie mir später ein angese-
hener Astronom von Fach
sagte, für einen Dilettanten
in der Wissenschaft sehr gut
orientiert gewesen sei. Neben der Sternkunde war
Jagd seine Hauptleidenschaft; auf den grostherzoglichen
Treibjagden war er ein gern gesehener Gast: er war ein
Mann voller Humor und guter Geschichten, mauchmal
aufbrausend in plötzlichem, donnerwetterartigem Jühzorn,
aber immer schnell wieder besänftigt, ein Ehrenmann bis
zum letzten Blutstropfen. Meine Mutter war anders, aber
eben so eigenartig wie er. Sie war eine geborne Eutinerin;
die Namen Voß und Stollberg waren in ihrer Kindheit
an der Tagesordnung geweseu, Tischbein hatte sogar noch
persönlich in den Kreis ihrer Familie hineingestreift. Eutin
wollte ja bekauntlich seiner Zeit gern ein kleines Weimar
sein, und die Bildung muß in der That dort aus eiuer
ungewöhnlichen Höhe, alle Gesellschastsform auf einem
gewissen, wenn nicht höfischem, so docb geheimhosrütlichem
Fuß gestandeu haben. Tie Versetzung meines Großvaters
als obersten Verwaltungsbeamren nach Telmeuhorst wars
meine Mutter, damals ein sünfzehnjähriges Mädchen, in
eine Art Krähwiukel; man hatte hier keine französischen
Abende, man stellte keine lebenden Bilder, man wandelte
nicht aus den geheikigten Psaden der Tochter des Pfarrers
von Grüuau. Meine Mutter, die in allen praktischen
Dingen von je mit den Menschen vortresflich zu leben
wußte, war genötigt, sich
geistig ganz aus den Kreis
ihrer nächsten Familie zu be-
schränken; ihre Bildung ivar
nichtvollendet, sondern uuter-
brochen wvrdeu uud sie
fühlte, daß sie, um nicht rück-
würts zu gehen, sich allein
weiterhelfen müsse. Dadurch
ist ein rastloser Bildnngs-
drang in sie gekommen; in
ihrem siebenzigsten Jahre hat
sie noch die sechs dickeu
Bände von Carlyles Fried-
rich dem Große», genau mit
den dazugehörigenLandkarten
durchstudiert. Sich mit tadel-
loser Aussprache ein Lust-
spiel vonAugier oder Sardou
laut vorzulesen, ist ihr be-
soaderer Hochgeuuß; und vor
ein paar Tagen bat sie mich
um eine bündige Darstellung
der Verwandtschaft zwischeu
den Hänsern Aork und Lan-
caster, weil ihr ohne eine
solche Shakespeares Königs-
stücke nicht recht verständlich
wären. Und das nach einem
so anstrengenden Leben vieler
Jahre, nachdem sie nach
meines Vaters Tode den
ganzen ungeheueren Betrieb
noch sechs Jahre allein
weitergeführt hatte! Es sind
die rührend - lächerlichsten
Szenen in unserem Hause vorgekommen: Meine Mutter
nnd die Schwestern z. B. beim Einmachen von Kompotts
oder dgl. beschäftigt, ein paar kleiner Geschwister mit
Schularbeiten an eineni Tisch fiir sich, ein paar ganz
kleine, schreiend, in der Kammer nebenan; ich, anstatt
Latein zu präparieren, heimlich zeichnend, mein älterer
Bruder aus einer ersten Ehe meiner Mutter zur Erbauung
des Kreises eine selbstgefertigte Übersetzung der Antigone vor-
lesend, und dazwischen alle füuf Minuteu irgend eine Magd
ins Zimmer stürmend: „Madame, wie soll dies? Madame,
wie soll das?" Würe der Haushalt aus allen Fugen ge-
Arkhur Titgrr.
Aus meinem Leben.
Von Arlbur Fltger.
H^>ein Vater war Postmeister, und vvr unserem Hause
wurdeu täglich sechs vierspännige Posten mit den dazu
gehörigen Beiwagen umgespannt; Extraposten und mancherlei
anderes Fuhrwerk ungerechuet; vierzig Pferde standen in
den verschiedenen Ställen. Da auch die Briespost im
Hause besorgt wurde, pflegte die Thüre niemals geschlossen
zu sein, und ein beständiger Malstrom von Zugwiud brauste
über die Hausflur. Mit der Zeit stieg die Zahl der
Kinder auf zwölf, von deueu nur eines im zarten Alter
starb. Eine Menge Knechte und Mägde, ein paar Post-
sekretäre und dazu eiu reger Verkehr von Reisenden, die
speisen und logieren wollten, — man kann sich denkeu, daß
es bei uns bunt und tumul-
tuarisch genug zuging. Wie
meine Eltern in diesem rast-
losen Wirbel nicht nur stets
den Kopf oben behalten, son-
dern, jedes in seiner Art,
auch ein über das gemeine
Bedürfnis des Tages hoch
hinausstrebendes Jdeal im
Herzen bewahren konnten,
das ist mir noch oft ein
Räthsel. Mein Vater pflegte
die Vormittagsstunden, d. h.
die Zeit der langsam heran-
drängenden Brandung, da
seine Gegenwart unschwer
entbehrt wurde, zu ver-
schlafen, erst gegen zehn, halb
elf wurde er sichtbar und
ergriss das Steuer, das er un-
ausgesetzt bis tief in die Nacht
führte: wenn dann aber
Alles zur Ruhe war, lag er
seiner Lieblingsbeschäftigung,
der Astronomie, ob, beob-
achtete mit seinem Fernrohr
den Himmel und studierte da-
bei die populärwissenschaftli-
chen Werke von Littrow und
Mädeler: der Kosmos von
Humboldt war ihm eine Art
heiligen Buches. Er soll,
wie mir später ein angese-
hener Astronom von Fach
sagte, für einen Dilettanten
in der Wissenschaft sehr gut
orientiert gewesen sei. Neben der Sternkunde war
Jagd seine Hauptleidenschaft; auf den grostherzoglichen
Treibjagden war er ein gern gesehener Gast: er war ein
Mann voller Humor und guter Geschichten, mauchmal
aufbrausend in plötzlichem, donnerwetterartigem Jühzorn,
aber immer schnell wieder besänftigt, ein Ehrenmann bis
zum letzten Blutstropfen. Meine Mutter war anders, aber
eben so eigenartig wie er. Sie war eine geborne Eutinerin;
die Namen Voß und Stollberg waren in ihrer Kindheit
an der Tagesordnung geweseu, Tischbein hatte sogar noch
persönlich in den Kreis ihrer Familie hineingestreift. Eutin
wollte ja bekauntlich seiner Zeit gern ein kleines Weimar
sein, und die Bildung muß in der That dort aus eiuer
ungewöhnlichen Höhe, alle Gesellschastsform auf einem
gewissen, wenn nicht höfischem, so docb geheimhosrütlichem
Fuß gestandeu haben. Tie Versetzung meines Großvaters
als obersten Verwaltungsbeamren nach Telmeuhorst wars
meine Mutter, damals ein sünfzehnjähriges Mädchen, in
eine Art Krähwiukel; man hatte hier keine französischen
Abende, man stellte keine lebenden Bilder, man wandelte
nicht aus den geheikigten Psaden der Tochter des Pfarrers
von Grüuau. Meine Mutter, die in allen praktischen
Dingen von je mit den Menschen vortresflich zu leben
wußte, war genötigt, sich
geistig ganz aus den Kreis
ihrer nächsten Familie zu be-
schränken; ihre Bildung ivar
nichtvollendet, sondern uuter-
brochen wvrdeu uud sie
fühlte, daß sie, um nicht rück-
würts zu gehen, sich allein
weiterhelfen müsse. Dadurch
ist ein rastloser Bildnngs-
drang in sie gekommen; in
ihrem siebenzigsten Jahre hat
sie noch die sechs dickeu
Bände von Carlyles Fried-
rich dem Große», genau mit
den dazugehörigenLandkarten
durchstudiert. Sich mit tadel-
loser Aussprache ein Lust-
spiel vonAugier oder Sardou
laut vorzulesen, ist ihr be-
soaderer Hochgeuuß; und vor
ein paar Tagen bat sie mich
um eine bündige Darstellung
der Verwandtschaft zwischeu
den Hänsern Aork und Lan-
caster, weil ihr ohne eine
solche Shakespeares Königs-
stücke nicht recht verständlich
wären. Und das nach einem
so anstrengenden Leben vieler
Jahre, nachdem sie nach
meines Vaters Tode den
ganzen ungeheueren Betrieb
noch sechs Jahre allein
weitergeführt hatte! Es sind
die rührend - lächerlichsten
Szenen in unserem Hause vorgekommen: Meine Mutter
nnd die Schwestern z. B. beim Einmachen von Kompotts
oder dgl. beschäftigt, ein paar kleiner Geschwister mit
Schularbeiten an eineni Tisch fiir sich, ein paar ganz
kleine, schreiend, in der Kammer nebenan; ich, anstatt
Latein zu präparieren, heimlich zeichnend, mein älterer
Bruder aus einer ersten Ehe meiner Mutter zur Erbauung
des Kreises eine selbstgefertigte Übersetzung der Antigone vor-
lesend, und dazwischen alle füuf Minuteu irgend eine Magd
ins Zimmer stürmend: „Madame, wie soll dies? Madame,
wie soll das?" Würe der Haushalt aus allen Fugen ge-
Arkhur Titgrr.