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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203 - 228 (1. September 1903 - 30. September 1903)
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rnittags, eintreffen und offiziell empfangen werden. Die
Majestäten werden im Ministerium des Auswärtigen ab-
steigen und das Diner ini Elysee einnehmen. Am Don-
nerstag den 15. Oktober ist Dejeuner in Versailles und
am Abend Galaoper. Am folgenden Tage finden EmP-
fänge im Stadthaus und dann im Ministerinm des Aus-
wärtigen statt. Am Samstag den 16. ist Jagd in Ram-
bouillet, am darauffolgenden Sonntag Truppenbesichti-
gung und militärisches Frühstück im Elysee. Die Abreise
des Königspaares soll an diesem Tage 3 Uhr nachmittags
erfolgen.

England.

L o n d o n, 15. Sept. Die Blätter bringen lange Be-
richte über dieManöver, welche gestern begonnen haben.
Die Mobilisierungs- und Konzentrations-Operationeu
waren am Samstag beendet, indessen nur sehr l a n g-
s a m vor sich gegangen, da für die Transporte keine eige-
nen Pferde zur Verfügung standen und Pferde der Stra-
ßenbahn und Droschken geliehen werden mußten, welche für
Militärzwecke wenig brauchbdr sind.

Aus SLadt und Land.

Heidelbcrg, 16. September.

X Eine Schwefeldarrc in ber Römerstraße. Man schreibt
uns: Eine gestern in: aintlichcn Teile der „Heidelb. Ztg." sei-
tens Großh. Notariats III. angekündigte Versteigerung ver-
dient im öffentlichen Jnteresse näher erörtert zu werden; die
Firma Leon Weil, Hopfenhandlung in Heidelberg, bean-
tragte die Aufhebung des Miteigentumsberhältnisses eines von
Herrn Privatmann Eduard Reis erworbenen, 7 Ar großen
Gartenlandes in der Römerstraße Nr. 1—3, um hierauf ein
Hopfenmagazin mit Schwefeldarre zu errich-
ten und soll hierzu bereits die Zusage der städtischen Verwal-
tung nachgesucht worden sein.^ Es erscheint dies als ein Unter-
nehmen, gegen wclches von Seiten der in der Umgegend an-
sässigcn Grundbesitzer niit aller Entschiedenheit
Einspruch erhoben werden sollte. Aber auch
weitere Kreisen sollten gegen diese Absicht Stellung nehmen,
denn es erscheint nicht angängig, in der Nähe der verkehrs-
reichen Bergheimerstraße und zahlreicher Univer-
sitäts - Jnstitute, besonders des Botanischen.
G a r t e n s, ein gewerbliches Unternehmen zu erbauen, wie
ds eine Schwefeldarre darstellt. Bei derartigen Plätzen
in Verkehrsstraßen, wie der Nömerstraße, sollte eine Bauer-
laubnis nur für Wohnhäuser gegeben werden, nicht aber für
ein Hopfenmagazin und Schwefeldarre, für
die sicher außerhalb gegen Eppelheim zu noch genügend Platz
vorhanden ist. Die Gebrüder Reissche Kunstwollfabrik, die
außerdeni mehrcre Hundert Personen beschäftigt, ist bcreits
seit mehreren Jahrzehntcn vorhandcn, doch wenn sich einmal
Gelegenheit bietet, sollte auch an die Berlegung dieser Fabrik
nach außerhalb gedacht werden, um das aufstrebende Berg-
heinier Viertel mit seiner das Rohrbacher Viertel verbinden-
den Römerstraße von Fabriken zu befreien. Jedenfalls dürfte
kein Grund vorhanden sein, gerade an der Römerstraße ein
'dsrartizes Unternehmen n e u zu genehmigen und sollten die
Stadträte wie Stadtverordnete des Bergheimer Stadtteils so-
wie auch der Verein West-Heidelberg sich ihrer Pflichten be-
wußt zeigen, hiergegen ernstlich Stellung zu nehmen.

Einführung der viertcn Wagenklasse. Wie die „Frkf. Ztg."
von unterrichtetcr Seite erfährt, ist die Einführung der vier-
ten Wagcnklasse zwischen Frankfurt a. M.-Mannheim über die
Linie der früheren Main-Neckarbahn nicht vor dem 1. April
1801 zu erwartcn. Die badischen Staatseisenbahnen, welche
mit der Strecke Mannheim-Friedrichsfeld hier in Betracht kom-
men, hatten sich bisher ablehnend gegen die 4. Wagenklasse ver-
halten. Tie neueren Verhandlungen werden jedoch wahrschein-
lich zu einem Uebcreinkommcn führen.

-st Gartenban-Ausstellung. Die bis jetzt eingctroffenen
Ehrenpreise sind von heute ab im Schaufenster des Herrn
Gärtner Scherff, Leopoldstraße 31, ausgestellt. Welch reges
Jnteresse auch das großherzogliche Haus an dieser Ausstellung
ninimt, beweist, datz S. Kgl. Hoheit der Grotzherzog selbst
seiuen Bcsuch in Aussicht gcstellt hat.

A Kaiserpanorama. Den Chinakrieg mit all seinen
Greueln führt uns das Kaiserpanorama diese Woche vor Augen.
Wir lernen zuerst Port Said kennen, wo wir der Kohlenauf-
nahme eines deutschen Transportschiffes beiwohnen. Sodann
ziehen u. a. an unferen Augen vorüber: Taku mit der De-
peschenstation des deutschen Geschwaders, die beschossene Kom-
mandobrücke des „Jltis", das öeschossene Takufort und das
explodierte Pulvermagazin dortsclbst, die Beschießung von
Tientsin, die Enthauptung von Boxern und Verbrennung toter
Chinesen. Auch die Sternwarte von Peking lernen wir ken-
nen, wo uns besonders die astronomischen Jnstrumente und

Damenschrwider haben es entschieden, und fast sämtliche
Pariser Blütter widmen dem bevorstehenden Ereignis
lange Besprechungen. Zwar soll es zu den wandelnden
Glocken des zweiten Kaiserreiches vorläufig noch nicht kom-
men, a'ber für die nötigen Uebertreibungen wird, wie bei
der Tournüre, die auch mit einem bescheidenen Kissen be-
gann, nachher aber zum Berg ausartete, schon die Zeit
sorgen. Die Neuerung soll einstweilen in einem „unten
durch Fischbein gesteiften Rock bestehen, der mit einem
den weiten Kragenmänteln, die man vom Stapel zu lassen
gedenkt, sich harmonisch anpassendsn Eisendraht eingefaßt
werden, dabei aber der Taille ihre ganze Feinheit und
Annint lassen soll."

— Z« dem Kapitel „Artistenelend" liefert, wie aus
Dortmund berichtet wird, ein Unfall, den die sogenannte
Mß Diavoline bei der Ausführung der Schleusenfahrt
betraf, einen wertvollen Beitrag. Der Jmpresario, der
für jeden Abend von dem Besitzer des Qlympiatheaters
außer seinen Varauslagen 150 Mark erhielt, zählte an die
Artistin jeden Abend ungefähr 6 Mark. Die Verunglückte,
die im Dortmunder Krankenhanse untergebracht ist nnd>
sich auf dem Wege der Besserung befindet, wird begreif-
licherweise in dieser Nummer nicht mehr äuftreten. Wün-
schenswert wäre es, wenn dem spekulativen Jmpresario
nach dem Vorfall auch anderswo die Genehmigung nicht
mehr erteilt würde, derartige Todesfahrten unternehmen
zu lassen.

- Bei dem schwcren Sturm, der in den letzten Tagen
der verflossenen Woche namentlich England und den
Aermelkanal schwer heimgesucht hat, sind, soweit sich bis
jetzt ermitteln ließ, 60 Schiffe, größtenteils kleinere Fahr-
zeugs, schifsbrüchig geworden. Die Verlustliste ist damit
noch nicht vollständig. Die Anzahl der Ertrunkenen wird
ebenfalls auf 60 geschätzt.

der Bronze-Globus, welcher sich jetzt in Potsdam befindet, auf-
fallen. Man sieht hieraus, daß das Kaiserpanorama keine
Kosten scheut, um seinen Besuchern immer wieder was Neues
vor Augen zu führen, und daß es seinem Wahlspruch: „Mein
Feld ist die Wclt" treu bleibt. Möge ein gutcr Bcsuch den
Unternehmer für seine Bemühungen entschädigen.

— Militärdienstnachrichten. Oberleutncmt Petersen im
Grenadier-Regiment Nr. 110 wurde unter Beförderung zum
Hauptmann zum Kompaniechef ernannt und in das 4. Nieder-
schlesische Jnfanterie-Regiment Nr. öl versetzt.

Zum Raubmordversuch in Schriesheim ist noch zu melden,
daß der Täter Antonio Corporetto heißt, 24 Jahre alt
und aus Pedavena gebürtig ist. Gestern Nachmittag wurde
er aus dem hiesigen Krankenhause abgeholt und nach Mann-
heim ins Untersuchungsgefängnis transportiert.

— Polizeibericht. Verhaftet wurde ein Hausbursche
wegen Bettelns. Zur Anzeige kamen ein Taglöhner we-
gen Hausfriedensbruchs, ein Eisendreher wegen Körperver-
lehung, ein Fuhrknecht wcgen Tierquälerei, cin Kutscher und
ein Schriftsetzcr wcgen Ruhestörung.

Mannheim, 15. Sept. (Jn das neue Budget des
G r o ß h. H oftheaters) soll der außerordentliche Zu-
schuß der Stadt wieder mit 137 000 Mk., wie im Vorjahre,
eingestellt werden. Jm Theater im Rosengarten stnd 100
Vorstellungen in Aussicht genommen. Das Theater soll für
jede Borstellung 200 Mk. an die Stadtkasse abliefern, im
ganzen 20 000 Mk. Die Mehreinnahmen aus dem gesamten
Theaterbetrieb sollen besonders zur Erhöhung der künstlerischen
Leistungen Verwendung finden.

Mannheim, 15. 'Sept. (I m P r o z e ß B o e h m) ist nun-
mehr Anklage gegen 11 Personen erhoben und zwar sind nicht
imir die fünf Direktoren Boehm, Henninger, Kohlstock, Holland
und Scheffel, sondern auch sechs Äitglieder des Aufstchtsrates,
darunter Rechtsanwalt von Harder, Kaufmann Bürk und Pri-
vatier Mahler-Baden-Baden, sowie der frühere Direktor der
Oberrheinischen Bank Grosch, angeklagt. Der Termin ist noch
nicht bestimmt, doch ist zu erwarten, daß die Verhandlungen in
allernächster Zeit stattfinden.

Weinheim, 15. Sept. (E i n b r u ch d i e b st a h l.) Jn
der Nacht von Sonntag auf Montag wurde nach 2 Uhr ein
Schaufenster des Herrn Uhrmachers Dell in der Hauptstratze
erbrochen und daraus Uhren und Ringe im Gesamtwert von
über 800 Mk. gestohlen. Die Täter sind noch nicht ermittelt.

Karlsruhe, 15. Sept. (Die Kaminfegergehilfen
B a d e n s) können jetzt mit einiger Genugiuung auf einen
Erfolg ihrer Bestrebungen zurückblicken. Nachdem sie sich
jahrelang vergeblich bemüht haben, die Regierung zu einer
Bermehrung der Kehrbezirke zu bewegen, hat das Ministerium
neuerdings eine Anzahl Kehrbezirke anders eingeteilt und
daneben ncue gebildet.

X Villingen, 15. Sept. (Lotteriegewinn.) Ein
Viertel des Hauptgewinns der Hessisch-Thüringischen Staats-
lotterie im Betrage von 25 000 Mark fiel an 19 Schreiner in
der „Uhrenfabrik Villingen".

Theater- und Kunstnachrichten.

— Karlsrnhe, 15. Sept. Herr Meltzer-Burg (früher
in Heidelberg), von seinem Auftreten im Stadtgarten-
theater hier als vielseitger Künstler bekannt, wurde auf Grund
seines Gastspieles als Wirt in „Minna von Barnhelm" an
das Karlsruher Hoftheater verpflichtet.

Mnnchen, 15. Sept. Die Wagner-Festspiele schlossen gestern
mit einer großzügigen Aufführung der Götterdämme-
rung unter großen Ovationen für Possart. Derselbe dankte
zum Schlusse der Vorstellung allen Mitwirkenden, insbesondere
dem Prinzen Ludwig Ferdinand, dem das Ensemble einen sil-
bernen Lorbeerkranz widmete und gab ferner bekannt, daß der
Prinzregent anlahlich des schönen Verlaufes der Festspiele eine
Reihe von AuZzeichnungen verliehen habe, so dcm Oberregisseur
Fuchs dcn Professorentitel.

Handel und Verkehk.

Mannbeim. 15. September. Oberrheinische Bank —B..
95.40 G. Rbein. Creditbank —B, 139.75 G. Rhein. Hhp.-
Bank190.— G., —B., Branerci Kleinlein, Heidelberg, —G.,
180.50 B. Schroedl'sche Brauerci Heidelberg - .— B., 190.— G,
Partland-Zementwerk Heidelberg —G., 110.— B.

Hopfen. Schwetzingen, 14. Sept. Am Samstag wurden
28 Ballen Hopfen abgewogen und bis zu 170 Mark nebst Trink-
geld bezahlt. _

N e ck a r.

Heidelberg 16., 1.31. gest. 0.15m
Keilbroim 15.. 0.70. gest. 0.15 m
Mannbeim, 15,8.40 gef., 0.01 m

R b e i n.

Lauterburg 15., 3.86, gest. 0.01m
Marau 15, 4.04. gef. 0.00a-

Mannhkim. 15., 3.42, gef. 0.02w

Vom sozialdemokratischeu Parteitafl.

ii.

Am Montag Nachmittag, am Dienstag Vormittag und am
Dienstag Nachmittag hat der sozialdemokratische Parteitag in
Dresden über die Frage der Mitarbeit von Genoss en
an den bürgerlichen Blättern diskutiert. Dabei
wurde sehr viel Familienwäsche gewaschen. Der Sozialist
Bernhard ist es gewesen, der den unmittelbaren Anlaß zu
dem Aufrollen der Frage gegeben hat, inwieweit Sozialdemo-
kraten an bürgerlichen Blättern mitarbeiten dürfen. Er
schrieb finanzielle Artikel für die „Zukunft" und einmal einen
allgemeinen Artikel, den über Partcimoral, den er nachher
selbst preisgibt. Dieser Artikel veranlaßte Kautsky, Mehring
aufzufordern, über die ganze Frage einen prinzipiellen Artikel
für die „Neue Zeit" zu schreiben. Durch diesen Artikel wieder
fühlten sich Dr. Heinrich Braun und andere verletzt. Sie
wandten sich an den Parteivorstand, und so kam die Sache
schließlich vor den Parteitag. Zunächst hatte Braun das
Wort. Er redet 114 Stunde, dreht den Spieß um und malt
unter argem Tumult ein Bild vom Renegaten Franz Meh -
ring, dem die ganze Sache in der „Neuen Zeit" cmzuzetteln
Kautsty gestattet habe. Braun tvird gemaßregelt, weil er
ihn nicht Genosse nennen will, und nun schlietzcn sich im Laufe
des Sturmes die Genossen mit der spitzen Anrede „Herr" ge-
genseitig aus. Vollmar ruft Singer bissig zu: „Ballestrem!"
Bebel gerät mit Braun lärmend in Streit. „Der darf
alles tun", rust Vollmar. Braun zeiht Mehring der bewußten
Lüge. Sechsmal ruft Bebel: „Sie sagen die Unwahrheit,
„Herr Braun"." „Und wenn Sie noch so oft zu mir „Herr
Vraun" sagen, ich werde immer Genossc Bebcl zu Jhnen
sagen," gibt Braun zurück. Jn anderm Zusammenhang spricht
Braun von seiner Ehre, worauf Bebel ruft: „Die überlasse
ich Jhnen!" B r au n gibt zurück: „Und ich Jhnen die Jhre!"
Braun fortfahrend: Dic Zeit des Vertuschens und Ver-
schweigens ist tatsächlich vorüber, auch die Zeit des Komödien-
spielens, Genosse Bebel. Jn diesem Sinne stehe ich hier! Der
Redner verliest dann den betannten „Gartenlaube"-Artikel
Mehrings. Sie werden in diesem Artikel „Dumme Jungen"
genannt, Genossen. (Heiterkeit. Zuruf: Du doch auch!)
Braun: Gewiß, ich auch. Wir werden als Bummler nnd
Schwätzer bezeichnet. (Zuruf: Die gibt es auch heute noch.
Heiterkeit.) Jch wiederhole, hätte ich diesen Artikel damals
gekannt, so wäre ich nicht der Vermittler zwischen ihm und
der Partei geworden. (Zuruf Bebels: Den haben Sie ja ge-
kannt!) Braun (auf den Pult schlagend): Das ist eine
Unwahrheit, Genosse Bebel! — Bebel: Das ist nicht wahr, Sie
haben ihn gekannt! Braun: Das ist eine Lüge! (Steigende

Unruhe.) — Bebel: Und ich behaupte, Sie haben ihn ge-
kannt! Braun: Das lügen Sie! (Grotzer Lärm.
Hört! Hört!) S i n ge r (in Nöten, heftig läutend) : Aber,
Genosse Bebel! Parteigenossen, ich bin mir in diesem Mo-
ment bewußt, welche Verantwortlichkeit ich in diesem Augen-
blick habe und daß ich die Würdc der Partei wahren muß. Die
Würde der Partei erfordert eine vollkommen ruhige Behand-
lung aller Dinge und dieser Würde widerspricht es, wenn Sie
hier wie Schulbuben Zwischenrufe machen. (Bewegung.)
Das gilt für alle, und so sehr ich auch das Temperament des
einzelnen verstehe, so sehr mutz sich der einzelne, so schwer es
ihm auch werden mag, zu mätzigen wissen. (Beifast.) Be -
bel springt bei diesen Worten erregt auf und tritt mit den
Worten auf das Rednerpult zu: Das ist unerhört! Jch bitte
ums Wort! Braun: Jetzt habe ich das Wort! Und ich be-
streite, daß ich von dem „Gartenlaube"-Artikel Kenntnis
hatte. Jch habe ihn erst vor einigen Wochen zu Gesicht bekom-
men und kann dafür Zeugen bringen. (Bebel ruft: Unerhört!
Unruhe.) Aber Bebel ereifert sich auch ganz unnötig. Dcnn
dieser Artikel ist ja nur eine Kleinigkeit dessen, was Mehring
sonst noch gegen die Partei geschrieben hat, und zwar als Partei-
genosse. Und darum bin ich berechtigt, ihn einen Lügner zn
nennen. (Unruhe.) Herr Mehring, als Feind waren Sie
uns unzefährlich und Sie würden uns auch wieder ungefährlich
werden, wcnn Sie aus der Partei ausscheiden würden. ALer
als Genosse sind Sie eine Gefahr für uns, denn auch der
stärkste Felsen wird gesprengt, wenn ein Sprengmittel darin
stcckt. Und das sind Sie! Der einzige, der an Jhrer hetzeri-
schen und parteizerstörenden Tätigkeit seine Freude hat, ist
der preußische Polizeiminister. (Beifall und heftiger Wider-
spruch.) Bebel (zur Geschäftsordnung): Ter Genosse Sin-
ger habe das Wort „Schulbube" in einem Zusammenhang an-
gcwendet, der der Phantasie weitesten Spielraum in Bezug
auf den davon Beiroffenen lasse. Aus diesem Grunde bitte en
den Vorsitzenden, zu sagen, wen er damit gemeint habe. (Hei-
terkeit! Zuruf: Er wird ihn doch nicht fordern?
Große Heiterkeit.) Singer: Er gcbe zu, sich in der Erregung
im Ausdruck vergriffen zu haben, und er nehme das Wort
zurück, weil er nicht zu denen gehöre, die ein Unrecht nicht ein-
zusehen vermögen. (Lebhafter Beifall.)

Jn der Debalte werden die Schriftsteller nur von Edmund
Fischer - Sachsen unterstützt. Hoffmann- Berlin schreit
eine lange Rede gegen sie mit dem Schluß: „Hinaus aus der
Partei!" K a u t s k y nennt die Frage nicht eine solche der
Meinungsfreiheit, sondern der öffentlichen Reinlichkeit. Für
alle Akademiker und den ferneren Zulauf zur Partei heischt er,.
eine Wartezeit. Brauns Nede sei gearbeitet nach der Denun-
ziantentaktik. Srürme von Beifall begleitet eine Anti-Braun-
sche Rede dcr Frau Klara Z e t k i n. Ausführungen über den
Artikel betreffend die Religion des Kaisers führen
darum gerade zu einer Episode, weil die Zuhörer rings um
den Saal mächtig Beifall lärmen. Hoffmann- Berlin Le-
dauert die Wahl Brauns zum Reichstagsabgeordneten und
fragt, Bernhard, welchen verwandtschastlichen Beziehungen
nach Breslau er sein Mandat als Delegierter verdanke. Er
wie der folgende Stadthagen findet es am Platze, daß ein
paar Genossen von den Rockschößen abzeschüttelt werden. Er
zieht Vollmar hinein durch Andeutungen, als habe Vollmar
geheime Zusamenkunft mit Harden gehabt und gegen Bebel
gehetzt.

Äm Dienstag wurde die Debatte fortgesetzt. Vorher teilte
die Mandatsprüfungskommission mit, daß 33b
Delegierte anwesend sind. Davon sind mehrere angefochten,.
so auch das Mandat des Genossen Bernhard, des Redak-
teurs der Berliner „Morgenpost", weil das Mandatmacherei
gewesen sei. Bernhard hat, wie schon oben erwähnt, den An-
stoß dazu gegebcn, daß die Schriststellerfrage auf dem Kongretz
zur Verhandlung kam. Es entspinnt sich eine längere, tcil-
weise erregte Debatte, in der auch Bernhard selbst das Wort
ergreift. Einer der Redner erwähnt ein Gerücht,j daß Auer
dieses Mandat vermittelt habe. Auer weist das entschieden
zurück, da er mit der Sache gar nichts zu tun hatte und be-
dauert, datz es hier eine Bernhard-Debatte gebe. Man schieße
mit Kanonen nach Spatzen und das Ganze sei nur erne Folge
der Hetze, die seit Jahren durch die Partei gehe. Bernhards-
Mandat wird für ungültig erklärt, aLer es soll ihm gestattet
werden, das Wort zu ergreifen, da er persönlich angegriffen
wnrde. Von den übrigen angefochtenen Mandaten wird nur
cins für ungültig erklärt.

Nach IVe Stunden konrmt man wieder zur Tagesordnung.
U l r i ch - Offenbach: Die parteilose Presse müssen wir für
viel bedenklicher halten als die ausgesprochen gegnerische, da sie
unter dem Deckmantel der Parteilosigkeit gegncrisch wirkt.
(Sehr richtig!) Es ist ein Mangel an Selbstbewußtsein der
Parteigenossen, daß ste sich manchmal einen Doktor zur Ver-
tretung holcn, statt einen erprobtcn praktischen Mann und daß
sie zu wenig auf den Charakter der Leute sehen. Man sollte
auch vorstchtiger sein mit der Einführung von Personen in die
Partei. Man setzt manchmal alte, verdiente Parteigenossen
zurück, wegen neuer Leute fragwürdigen Charakters, dic viel-
leicht besser reden können und einen literarischen Namen haben..
Aus Achtung vor sich sollte ein Parteigenosse sich hüten, an
eincm Blatte mitzuarLeiten, in dem die Sozialdemokraten be-
schimpft werden. (Sehr richtig!) Quarck - Frankfurt: Nach
dcm Dreimillionensieg hätten wir die vorliegende Frage besser
anpacken können, als Genosse Braun es gestern tat. Es han-
delt sich da um eine Sache, für welche die Arbeiter gar kein
Jnteresse haben. Es ist nur ein Berliner Literatengeschenk.
Man kann nicht scharf genug gegen die Mitarbeit an bürger-
lichen Blättern Stellung nehmen.

Bernhard beginnt seine Berteidigungsrede damit, daß.
er kein Akademiker, sondern früher Handlungsgehilfe gewesen
sei und seit Jähren der Partei angehöre. Unter anderem wird-
ihm ein Artikel „Parteimoral", den er in der „Zukunft" ver-
öffentlichte, zum Vorwurf gemacht. Dieser Artikel enthielt
eine Art Jesuitenmoral. Bernhard erklärt nun, der Artikel
sci falsch verstanden worden, im übrigen gebe er gerne zu,
daß der Aufsatz besser ungeschrieben geblieben wäre. Er be-
dauert ihn und bittet, daß man ihm nun nicht mehr mit dieser
Sache komme. Er erzählt dann sehr ausführlich die Geschichte
seiner Parteiangehörigkeit und schließlich einiges von Mehring.
Jm Jahre 1892 schrieb Mehring an Hcrrden eine Karte des
Jnhalts: „Wenn Sie einmal mit Schönlank abrechnen wollen,
wenden Sie sich nur an mich. Jch weitz den Lümmel zahm zu
machen." (Hört, hört! Ohorufe.) Nun, dieser Mann ist eben
immer derselbe geblieben.

Jn der N a ch m i t t a g s s i tz u n g ergriff dann Bebel das
Wort. Er sprach in gewissem Sinne zu Gunsten Mehrings,
der sich von seinen Gefühlen sehr hinreitzen lasse und nie einen
schlimmeren Feind hatte, als sich selbst.

Die Rede Bebels füllte die ganze Nachmittags-Sitzung.
Es war ein draw.atischer Vortrag von ungeheurer Leidenschast-
lichkeit. Sturmszenen des Beifalls brechen immer wieder los.
Bebel wies es weit ab, daß es sich um überflüssiges Gezänk
handle, und zog vielf-ach die Revisionistenfrage in die Erörte-
rung und stellte dazu eine weitere Kundgebung in Aussicht-
Den Goehre, Lilli Braun, Bernhard und anderen Mitarbei-
tcrn der „Zukunft' rief er unter frenetischem Beifallslärm ein
Pfui zu. Er wetterte gegen Harden und deckte Mehring. Jn
wachsender Erregung erinnert BeLel den Parteitag weiter an
das, was er für die Partei gelitten habe. Nie werde ich ver-
gessen, ruft er aus, wie man uns zu Zeiten des Sozialistenge-
setzes Verbrechern gleich auf den Polizeiwachen be-
handelt hat. Wenn ich's je erlebe, daß der Tag käme und ich?
könnte es vergelten: Jch tät's^ (Tosender Beifall.),
 
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