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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

DOI Kapitel:
Nr. 229 - 255 (1. Oktober 1903 - 31. Oktober 1903)
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Wwch, 14. SkM M.

WZOtt.

4Z. ZshrgSH. — 246.

Verschiebung der Zarenreise nach Rorn.

Ter Generaladjutant des Zaren, Fürst Dolgo-
^sky, überreichte am Tienstag Vormittag in Pisa dem
^vntg Viktor Emanuel ein e i g e nh än d i g e s
^chreiben des Zaren, in dem dieser seinem Bebauern
üuZdruck gibt, den aus Ende Oktober bereits angesetztsn
^such in Rom ver s chieben zu müssen. Nach einer
s'sviteren Meldung hätte der Zar die Reise aus Gründen,
"e von seinem Willen unabhängig sind, verschoben.

.. Wekchsr Art diese Gründe sind, das geht aus den Er-
^terungen der russischen Blätter hervor. Die „Nowoje
^semja" schreibt, wer die itakienische Presse in der letzten
iivit verfolgt habe, wundere sich nicht weiter über den
^uerhochsten Entschkuß. Bei dem erwarteten Gegen-
"vsuch des Zaren sei von den Anhängern des Sozialismus
Und der republikanischen Partei eine feindliche Mani-
lostation bei der Begrüßung beabsichtigt, die Sozialisten
'R Parlament hätten schon lange dafür geeifert, cbwohl
Besonnenen in den freien Parteien dies Borgehen
oeurteilt und energisch dagegen Protestiert hätten. Der
^sfgeschobene Besuch finde lediglich hierin seinen Grnnd.

Beziehungen beider Herrschsrhäuser seien dieselben
yvrzljchsn, und es sei keine Störung in diefen Bezlehungen
ovrgekommen. Toch scheine ein Teil des italienischen
^olkes die einfachsten Regeln der Gastfreundschait ver-
Phsen zu haben zumSchaden der ganzenNation. „Nowosti"
"ußert sich in demselben Sinne und ermne.i daran, daß
italienische Herrscherhaus unlängft selvst durch lie
^ozialisten furchtbar gelittcn habe. Tie Änsicht der
"Petersbnrgs-Iija Wjedowosti" deckt sich mit drm beiden
^bigen.

'Tie italienischen Blätter suchen, wie man sich
"knken kann, die Gründe, die von der russischen Presse
^ugeführt werden, zu entkräften. Die „Tribuna" führt
fjus, wenn die russische Polizei gut unterrichtet sei, dürfe

nicht behaupten, daß Würde und Person des Zaren in
dtalien wsniger geschützt werden könnten oder größere
^efahr lausen als anderswo. Das Btatt erinnert daran,
vaß der Zar bei seincr tetzten Reise nach Frankreich es nicht
kür opportun gehalten habe, nach Paris zu gehen und
üei dem jüngsten Aufenthalt in Ocsterreich Wien nicht be-
Eeten habe, wo z.n gleicher Zeit zwei sozialdemokratische
Protestversammlungen stattsanden. Jn Jtalien würde
'richts dergleichen gcschehen sein. Die italienischc Regie-
^ung hätte' die bündigsten Verstcherungen über eine wür-
Äge und achtungsvolle Aufnahme geben können, die der
^aiser gefunden haben würde. Wenn man behaupte,
sjaß der Ausschub von einem ganz kteinen Bruchteil der
üußersten Linken verschntdet worden sei, meint die „Tri-
üuiia", tege man einer kleinen Anzaht vüNl Leuten, denen
?u feindseligen Knndgebnngen getegen sei, die aber ge-
icheitert wären, zu große Bedcutung bei. Das Btatt hofft,
üaß die erschienenen Wotken bald wieder verschwinden.
"Popolo Romano" sagt, die Bertagung des Bssuches
Eönne nicht durch Gründe, an denen Jtalien schuld sei,
ilerursacht worden sei. „Capitan Fracassa" führt aus,

i die italienische Regierung häbe alle erforderlichen Maß-
! nähmen getrofssn, um die Ordnung zu wahren und die
j Person des Zaren zu schützen. Die gegen den Zaren ge-
j richtete Campagne sei erfolglos^gebliebeii, vielmehr hätten
i sich 300 Vereine öem Empfangskomitee zur Verfügung
! gestellt, um den Kaiser nstt demselben Enthufiasmus wie
i die anderen Souveräne zu empsangen. Der sozialistische
! „Avanti" fährt in der Agitation gegen den Besuch des
i Zaren fort.

Die „Jtalie" schreilst, der Direktor der rus-
i s i s ch e n P o I i z e i sei drei Tage in R om geblieben, um
l über die potitische Lage in Jtalien bezüglich der Reise
des Kaisers von Rußland nach Rom Erhebungen anzu-
^ stellen. Er habe Ratgeber gehäbt, die ihn offenbar falsch
l nnterrichtet hätten, indem sie Gefähren sahen, die in
, Wirktichkeit nicht bestanden. Er lhabe die Drbhung von

- Kundgebungen, stie das italienische Votk verurteite, ernst
: genommcn. Nun zeige sich das Ergebnis davon. Der
z russische Botschaster in Rom, Baron Netidow, kenne
i Htatien und seine innere Politik genau. Er faßte die
j Reise des Kaisers nach Rom systeinatisch ins Auge und
l habe in Peters'burg die Gewihheit gegeben, daß man nichts
! Ernstes zu sürchten habe.

Da die Verschiebung eines schon offiziell angekündig-
l ten Monarchenbesuchs immerhin ein außerordentlich set-
i tenes Vürkominnis ist, so kann man nicht umhin, anzu-
nehmen, daß die russische Potizei ganz Lestimmte An-

- hattspunkte häben mnß, wonach die Reise des Zaren nach ^
! Jtalien von besonderen Gesahren bedroht sein würde.

i Üebrigens herrliche Zustände in nnserem kuttivierten
j Enropa, daß ein Mann fürchten inuß, nnter die Mörder
i zu fallen, wenn er eine Reise nnternimmt!
i ——-

DeLtsches Reich.

— In der letzten Ptenarsitzung des Vundesrats wurde
' eine Mitteilnng, 'betr. ernen Bericht über die Tätig-
. keit der R e i ch s - L i m e s - K o m m i s s i o n zur
' Kenntnis genommen. Die ReichZ-Linies-Kommission hat
! nun schon viele Jähre an dsr wissenschaftlichen Erfor-
! schnng unö Aufdeckung des römischen Grenzwalles gear-
! beitet. Zum Abschluß ihrer Veröffenttichungen ist sie noch
j nicht gelangt. Sie wixd dazu auch noch weiterer Mittel
i bedürfen, und man wird wohl nicht fehtgehen in der An-
! nahme, daß der Reichshaus'haltsetat sür 1904 auch hier-
j für eine entfprechende Summe answeisen wird.

Baden.

Konstanz, 13. Okt. Jn einer zahlreich besnchten
Versammlung des Nationalliberalen Vereins wurde taut
„Bad. Landesztg." Hr. Oberbauinspektor K i st einstimmig
ats Landtagskandidat aufgestellt. Damit stellt sich die der
»Frkf. Ztg." telegraphierte Nachricht von der Ausstellung
etner Kandidatur Böhler als irrig heraus.

— Einen kösttichen Bericht veröffentlicht das
ultramüntane „Heuberger Volksbtatt" über das land-
w i r t s ch a f t l i ch e Gaufe st der Bezirke Pfullendorf,
Stockach und Stetten. Jn der Einteitung heißt es:

Pfullendorf, 11. Okt. Gestern wurde unsere Gau -
ausftellung eröfsnet, an welcher sich Herr Landeskom-
missär Freiherr v. Bodman und Herr Geh. Finanzrat,
Rcichs- und Landtagsabgeordneter Hug beteiligte. All-
überallher kamen die Scharen zusammengeström t.
Jn großer Anzahl waren Menschen und Vieh aus
dem gcmzen Bezirke vertreten. Pferde, Ochsen.
Kühe, Rinder, Schweine, Ziegen bildeten gestern
den Hauptanziehungspunkt.

Auf der Redaktionsstnbe des ultmmontanen Blattes
scheint man keinen Unterschied zu machen zwischen Dkensch
unö Vieh.

— Nach einem Vericht des „Landesboten", der aus-
sührlicher ift als der des „Volksfreund" selbst, wäre es
in der Pforzheiiner s o z i a l d e m o k r a t i s ch e n Ver-
sammlung fürchterlich über Kolb hergegangen. Man
warf ihm vor, daß er sich noch überall blamiert habe; ein
Redner empsand über Kolbs Aufruf an die Genossen ein
Gefühl der Scham. Unter Kotbs Leitung dürfe kein
Parteigeld zur Erweiternng des Parteiblattes verwendet
werden, denn es wäre hinausgeworfsn. Die Arbeiter
verbeten stch das Austreten der Akademiker und Redak-
teure; sie hätten nicht nötig, Lieselben „durchzusüttern" (!).
Nachdem man Kolb noch Angst und Feigheit vorgeworfen,
drückte man die Hosfnung aus, Kolb werde beseitigi wer-
den oder von selbst gehen. Das sind nette Proben brüder-
licher Höftichksit sehr bezeichnend für die „ausstrebende"'
Proletarierpartei! Kotb selbst macht, wie der „Schwäb.
Merkur" hervorhebt, eine Erfahrung, die ihm früher odev
später nicht ersparä bleiben konnte, daß nämlich die un-
mündigen Schreier am schwersten zu belehren und zu be-
friedigen sind. Er hat sich bis jetzt auch nicht ganz ein-
schüchtern lassen und bringt wieder einen sehr scharsen Ar-
likel des „Sattler" (Orgcin des. Sattlerverbandes), der
in revisionistischem Sinn gehalten ist und die Erfotge der
praktischen Gegcnwartsarbeit der Gewerkschaften hervor-
hebt. Man habe geglaubt, die wirtschaftliche Bssierstellung
'der Arbeiter von der politischen Bewegung erwarten zu
sollen. Mittterweile habe es sich gezeigt, daß die Arbeiter
„auch nicht einen Pfennig mchr Lohn, auch nicht eine Mi-
nnte weniger Aröeitszeit" auf gssetzgeberischem Wege er-
langen können. Der Artikel preist die Gewerkschaften,
die anfangs nur als Vorschule angeschen, jetzt Selbstzweck
geworden seien. Er redet dem Unterstützungswesen und-
sogar den paritätischen Avbeitsnachweisen und den Tarif»
verträgen (zwischen Arbeitgebern und -nehmern) das
Wort. Dabei fühle sich die Arbeiterschaft wohl, sie sei
in eine höhere Lebenslage ge'bracht worden, ohne daß der
Kampfesmut abgenommen hätte. Man häbe in der Ge-
werkschaftsbewegung auch von Revi'sionisten, von Waden-
strümpslern nsw. gesprochen, aber im ganzen sei man doch
dutdsam gewesen, man habe niemanden hinausgeworfen
und die Leute nicht verdammt. Der Abdruck des Artikels
ist ein schneidender Hieb der Abw-chr seitens 'der „Volks!-
freund"-Redaktion, auf den die Gegner die Antwort nicht
^ schuldig blei'ben dürsen, wenn ste eine zu geben wissen. Jn
s einem weiteren Artikel hält Kotb den Psorzheiinern vor,
^ daß das Abonnement auf den „Votksfreund" nirgends so

KLeirre Zeilmlg.

. — Hochschulnachrichten. Wie die „Nationalzeitung" niel-

?ot, sjnd diescr Tage zw-ei schwarzc Studenten an
Berliner Universität immatrikuliert worden.
E-ie bciden jungcn Ncgcr sind Amerikaner und haben sich bei
theologischen Fakultnst einschrcibeu lassen. Der cine,
^ichard R. Wright, der Sohn des Präsidcnten des Staats-
BÜegs zu Cuthbcrt in Georgia, ist bercits Baccalaureaus der
stheologie, der andere, Thomas B. Lillard aus Marhville
tTennessee), hat zuletzt das Hartford Theological Seminary
besucht.

— Uebcr dic VersuchSfahrt mit der elektrischen Bahn
s>uf der Strecke Marienfelde-Zossen, bei der die Fahrg e-
! chwindigkeit von 201 Kilometer erreicht wurde,
ichreibt der „Germania" ein Teitnehmer: Um tU/2
Phr etwa verließ der elektrische Schnellwagen der Firma
^ieinens und Halske, geführt vom Oberingenieur Reichel
Und besetzt mit den Mitgliedern der Studiengesellschaft
che Station Marienfetde. Wenige Minuten darauf er-
^eichte der Zug die Höchstgeschwindigkeit von 200 Kito-
dietcr in der Stun'de, um in etwa 8 Minuten 'die 2/3 Kilo-
v/eter entfernte Station Zossen zu erreichen. Bei der batd
^arauf ersotgendsn Rückfährt konnte wegen des Gegen-
ivindes und der ungünstigern Gefälleverhältnisse nur eine
^eschwindigkeit von 195 Kilometer in der Stunde erzielt
iverden. Die Fahrt war ruhig und gleichmäßig. Aller-
^üngs verschwin-den die nächstgelegenen Gegenständs vor
Angen, nnd vom Führerstande gesehen, saugt sich die
Ttrecke gewissermaßen in dcn Zug hinein. Der Führer
iviirde zwar Hindecnisse auf der Strecke erkennen können,
nber das würde wenig nutzcn, da der Bremsweg, d. h. !

der Weg vom Beginne bes Bremsens bis zum Stillstande
des Zuges, zwei Kitometer Leträgt. 2400 Pferdekräfte
mußten aufgewendet werden, nm die gewünschte Geschwin-
digkeit zu erzielen. Wclch' eine Kraft das ist, das inußte
zu seinem Leid ein armer Spatz erfähren, der es versucht
hatte, vor dsm neuen Ungetüm die Strecke zn kreuzen,
und nunmehr wie ein rot und grau gesprenkelter Tinten-
kter -der Stirnwand des Wagens anhaftet. Auch für die
Zuschauer, deren sich eine ziemliche Zähl in Dahlwitz, der
Mitte der Strecke, eingefunden hatten, war es ein ausre-
gendes Schauspiel. Schneller als der Sturmwind kam
der wsiße Wagen ein'hergesaust. Die Funken der etek-
trischen Leitung stoben, kteinere Teile 'des Steinschlages
wurden aufgewühtt, Staüb nnd Papierfetzen wir-belten in
der Luft. Man sah zwar, daß Menschen im Wagen waren;
aber bevor es möglich war, anch nur einigermaßen deren
Gestalt in das Auge zu fassen, war der Wagen längst dem
Gesichtskreise entschwunden. Tratzdem die Strecke schnur-
gerade ist, danerte es kaum eine hatbe Minute von dem
ersten Auftauchen des Znges bis zu seiner Durchfahrt iind
wieder von da bis zu seinem Verschwinden arn Horizonte.'
Die VersuchSstrecke war während der Versuchsfahrten für
allen anderen Verkehr geschlosien.

— Franzoscn und Deutsche auf der Rcisc. Jn Kon-
stantinopel ankert gegenwärtig das stattliche franzosische
Schiff „Fsle de France" mit seinen Hunderten von fran-
zösischen Vergnügnngs- und Stndienreisenden. Das ist
ein Ereignis am Goldenen Horn. Bisher sind es fast
ausschtießlich deutsche Schiffe gewesen, die Massenreisende
- hierherführten. Die Zeitungen bringen frcundliche Be-

grüßungen der französtschen Gäste- und ziöhen dabei zwi-
schen den Zeilen kteine Vergleiche, die für uns Deutsche
ni-cht sehr sch'meichelhaft sind. Es ist richtig, baß nnsere
guten Landstente aus der Heimat recht häufig in der
Fremde als Biedermeier und Bi-sdermeierinnen auftreteir
nn'd i'hre angeblichen Nationaltugenden äußerlich und
innertich in etwas äbgetragene Gewänder hüllen. Für die
Reise ist alles gut genug! Wo 'sich die internationaten
Heerstraßen der Reiseäden treffen, dort hat man für alle
die'se Dinge ein 'sehr scharfes Auge, und mit dem Spott
spart man nicht. Mit der unvergleichlichen, viel besun-
genen Tüchtigkeit unserer Dichtsr und Denker und ihrer
werten Famitien ließe es sich wohl vereinigen, wenn man,,
ohne Fexerei zu treiben, daran dächte, daß nach dem Auf-
treten der Reisenden in der Fremde 'die ganze heimatliche
materielle nnd geistige Lebsnsführung beurteilt wird.
Man hat ja nicht inimer Beweise der unvergleichlichen:
Tüchtigkeit zu geben, man lebt auch für sine heitere unbe-
fangene Muße, imd was man wählt, und wie man genießt,.
stnd für den Knlturrnenschen keine Nebensachen. Die
Gäste der Jsle de France häben jedenfalls sehr glücklich
für ta 'belle France Stimmung getnacht, namentlich die
Frauen. Für den dauerüd in der Fremde lebenden Deut-
schsn ist es gerade so wie sür die anderen Ausländer immer
eine patriotische AufmunterunZ, Landsteute zu begrüßen,
die i'hm in tädelloser und bei Frauen anmutiger Forür
den Weg nach oben vor Augen führen, den die Heimat
tatsächlich geschritten ist, nicht allein in Wissenschaft, Kunst
und Arbeit, sondern au-ch itn Geschmack un'd guten Ton m
allen Lebenstagen.
 
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