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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

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Nr. 281 - 305 (1. Dezember 1903 - 31. Dezember 1903)
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*rsch»t,t tLrlich, Sonntag» «U»genommen. Prei» mit Familienblättern monatlich SO Pfg. in'k Hau« gebracht, bei ber Erpeditio» und den Zweigstationen abgeholt 40 Pfg. Durch di«

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destimmten Tagen wtrd keine Verantwortlichketl übernommen. — Anschlag dcr Jnierab auf den Pia katiaseln der Heidelberger Zeitung und den städtsschen Nnichlagftellen. Ferrüprecher 8L

Aesstag, 1. Iezember 19V.

Wz ftes BZMtt»

O. MrgsU. — 281.

Aberalisrnus und Sozialdemokratie.

* Heidelberg, 1. Dez.

^ >;n der Versamnrlung am vorigen Freitag im Tann- ?

^ erzählt worden, daß ein gewisser Jemand so- I
^ ^ldeinokratisch gewählt habe, weil ihm die nationallibs- i
si-,/ ^artei nicht mehr liberal genng sei. Wir müssen ge- i
Noch selten ist der Mangel an Einsicht in die
^wdprinzipien der politischen Parteien so naiv zu i
getragen worden, wie von diesem sozialdemokrati- 's
di^ Mitläufer. Die nationalliberale Partei ist ihm !

mehr liberal genug, ja, da fragen wir doch: I st s
s^^vdie Sozialdemokratie ü-berhaupt
hxs ^al? Wer nur ein wenig Einsicht in daA Wesen !
^ ^lben besitzt, der weiß, daß sie sich nicht auf dem libe- >
^ Gedanken, dem Gedanken der Freiheit, sondern auf
Gedanken der Solidarität aufbaut, und zwar einer
h?"darität, die für die Freiheit verteufelt wenig Raum
läßt, ja dleselbe auf sehr vielen Gebieten, insbe-
r.d^re auf den Gebieten von praktijcher Bedeutung ge-
ausschließt.

,^enn an eiper Arbeitsstätte die sozialdemokratischen
s^^.diter in der Mehrheit sind, dann quälen und drang-
z^^ren sie die übrigen so lange, bis sie entweder auch
de>-s ^OIialdemokratie übergehen, oder die Arbeitsstätte
^iassen. Wo bleibt da die Freiheit, wo die liberale
-^ischätzung der sclbständigen Entschließnng des Ein-
^ Ne»? irgendwo ein Streik ausbricht, dann

j, pden die Nichtstreikenden von den organisierten sozial-
^ ^okratischen Genossen so lange nnd so handgreiflich be-
. M h^s Freiheit oder ist

^?ltet, bis sie mitstreiken.

^ dwcmg der Solidarität?
q^^olche Vorkommnisse sind nicht zufällig, sie quellen
syt'.dem Wesen der Sozialdemokratie, welche sür den ge-
Zukunftsstaat nicht die Freiheit, sondern bie Soli-
Fahne geschrieben hat. Wemr jener gewisse
^ Mand erklärt hätte, er wähle sozlaldemokratisch, weil der
^^"vnalliberalismus nicht sozial genug sei, dann wäre
stzj d solche Begründnng- wenigftens äußerlich verständlich.
dxx dchiell wäre er trotzdem immer noch im llnrecht, denn
'vziale Gedanke hat heute vlle Parteien ergriffen,
^ ^lcht zum mindesten die nationalliberale, die aus ihren
so< öliberalen noch eine besondere Vorhut für die Ver-
s^^ng ^ sozialen Ziele gebildct hat. Wir Mrchten
daß alle diejenigen Leute, die sich so leidenschaftlich
^ lozialen Gedanken hingeben, ohne divekt Sozial-
^ °krawn zu sein, den freiheitlichen Gedanken mehr und
vernachlässigen nnd schließlich ganz vergesstn werden.
Spdurchaus' an der Zeit, sie an den Liberalismus
s^^vnern, denn wenn sie den liberalen Gedanken gering-
dann werden sie eben rettungslos der Sozial-
ä^^^afte verfallen. Beifpiele sind dafür leider schon ge-
^ borhanden.

>i>eh ^ ganz richftg, daß der soziale Gedanke durchaus
^esil ^vnt werden mnßte, als dies in der Zeit des man-
>^kichen Liberalismus und noch lange nachher geschah.

Heute fehlt es daran nicht mehr, und wer Augen hat zum
sehen, der wird finden, daß auf den verschiedensten Lebens-
gebieten ein großer Umschwung in Bezug auf das soziale
Empfinden eingetreten ist, und daß die verschiedensten
Gebiete im Sinne dieses Gedankens bearbeitet werden.
Die soziale Wohlfahrtspflege 'hat sich in der Theorie die
Stellung vollständig gesichert, die ihr zukommt, und in der
Praxis, das lehrt jede Nummer jeder Zeitung, ist man
eisrig bemüht, dis. Wirklichkeit von dieser Theorie durch-
dringen zu lassen. Das Problem ist heute nicht mehr
dis Erwecknng des sozialen Gddankens, des sozialen Em-
pfindens, fondern die Krage ist hente die: Wie vereinigen
wir die Rechte des Jndividuums rnit den Rcchten der
Allgemeinheit, wie werden Jndividualismns und Solida-
rität so miteinander verbunden, daß darans für die Ge-
samtheit das beste Resultat erzielt wird? An der Beant-
wortung dieser Frage arbeitet die nationalliberale Partei
in vollem Eifer mit. Wer sozial denkt, aber auch dis
Rechte des Jndividuums schätzt, wer einsieht, daß die
Freiheit des Jch und die Wohlfahrt der Allgemeinheit mit-
einander in die richtige Harmonie gebracht werden müssen,
der findet in ihr den günsftgsten Boden ftir seine Prak-
tische Betätigung.

— Jn der von Peter Rosegger geleiteten Monats-
schrift „Heimgarten" veröffentlicht Wilhelm Schwaner-
Berlin einen Aufsatz „Der dentsche Kaiser", worin er
u. a. eine bisher nicht bekannt gewordene Episode
aus den Vorgängen bei der EniIassung
des Fürsten Bismarck erzählt. Es ist bekannt,
daß die unmittelbare Veranlassnng zu dem Bruch zwischen
dem Kaiser und dem Alt-Reichskanzler die Verhandlungen
Bismarcks mit Windthorst boten, über welche dem Kaiser
vorher keine Mtteilung gemacht worden war. Der
Kaiser begab sich selbst zu Bismarck und stellte ihn zur
Rede. Ueber die nun folgenden AuseinandetsetzungM
berichtet Schwaner:

Es kam zu erregten Auseinander -
setzungen, derart, daß es als unmöglich erscheinen
mußte, Bismarck sernei: in der Regierung zu behalten.
Hafie er stch hinreißen lassen, das Tintenglas im Zorn
gegen seinen kaiserlichen Herrn zu er-heben! Wenn
Maximilian Hvrden in seinen Jntimitäten aus den
kritischen Tagen von damvls hierüber nichts erzählt und
auch Bismarck in s-einen „Denkwürdigkeiten" davon
schweigt, so hat doch- der Kaiser sel-bst seinem Freunde,
dem König ÄIbert von Sachsen, darüber be-
richtet, der seinerseits unseren Moritz v. Egidy
einweihte, von dem ich es einst in einer vertrauten
Winterabendstunde ersahren habe. Jch sage das hier-
mit zum ersten Male öffentlich, um alle Legenden über
dis „ungerechtfertigte und undankbare" Behandlung
des Reichsschmieds endlich einmal ins rechte Licht zu
rücken, und nenne dazu die Namen, um allen Zweifeln

an der Echtheit dieser Szene von vornherein die Shitze
abzubrechen.

Aehnliche Mitterlun-gen, wie sie Schwaner da macht,
sin-d damals schon von Mnnd zu Vknnd gegangen, auch,
wenn wir uns recht erinnern, in der Presse bereits an -
d e u t u n g s w e i s e erwähnt und andeutungs -
weise dementtert worden. Nach dieser so bestimmten
Angabe in einer angesehenen Zeitschrist wäre eine au-
thentische Auskunft wünschenswert, welche die Sache klar
und cinen etwaigen Jrrtum richttg stellt. Wer da weiß,
wie peinlich Fürst Mrmarck sowohl im schristlichen wie
im mündlichen Verkehr seinem Souverän gegenüber stets
die Form beobachtet hat, wird der Erzählung des „Heim-
gartens" keinen Glauben schenken, zumal da sie stch auf
Gewährsmänner stützt, die tot sind.

Bade».

— Zum Präsidenten des evangelischen Obev-
kirchenrats ist den heutigen amtlichen Nachrichten
der „Karlsruher Ztg." zufolg-e ein -Geistlicher, der bis-
h'erige Prälat Helbing, ernannt worden. Damit ist ein
berechtigter Wunsch der evangelischen Geistlichkeit ersüllt.
Es ist doch eigentlich naturgemäß, daß an der Spitze einer
kirchlichen Behörde ein G e i st l i ch e r steht und so wird
man überall — außer vielleicht in den jnristischen Kveisen,
die einen Posten verlieren — die Ernennung Helbings mit
Besriedigung aufnehmen.

Karlsruhe, 30. Nov. Der von demokratisch-
ultramontaner Seite veranlaßte Protest gegcn die Wahl
des Land-gcrichtsrats Clauß im Bezirk Schwetzingen
ist bereits im Ständehaus in Karlsruhe abgegeben worden.
Begründet wird diese Wahlanfechtung insbesondere dai-
mit, daß die Wahlbezirke in Hockenheim willkürlich o-hne
Zusammenhang eingeteilt waren, was durch eine beiAS-
gebene Kvrte veranschanlicht ist. Außerdem seien auch
bei der Wahlhandlnng selbst Verstöße g-egen die Wahl-
ordnung vorgekommen, auf die ebenfalls Bezug genonimeir-
wird. Der Hauptanfechtun-gsgrund scheint deinna-ch die
„wiMürliche" Wahleinteilung in Hockenheim zu sein. Be-
kanntlich spielte der gleiche -Grund vor vi-er Jahren bei
der Konstanzer Wahlanfechtung die Hauptrolle. Es hat
sich aber bei genauer Untersuchung herausgestellt, daß keine
willkürliche Zerschneidnng oder Zuteilnng der Straßen
in den fraglichen Distrikten vor sich gegangen, sondern daß
die Maßregel von der Stadtverwaltung nur im Jnteresse
einer glatten Abrundnng der Wählerzahl getroffen wor-
den ist.

-s- H e i de lb e r g, 1. Dezember. Wenn vor einigen
Tagen ein Teil der Presse sich dahin änßerte, daß die
Jungliberalen auf ihrer L a n d e s v e r s a m m °
lung liobor praktts-che Arbeit leisten solltcn statt sich
harrptsächlich über eine doch äußerliche Frage, welche die
Altersgrenze betrifft, zu unterhalten, so hat die Landes-
versammlung in Offen-burg, welche erfreulicherweise eine
öffentliche war, die Wichtigkeit dieses Pnnktes der Tages-
ordnung bewiesen. Das enknut terr-ible -der jungliber-alen
Bewkgung, der Ka-rlsruher jun-gliberale Verein, führte

KLei«e Zeitung.

z^-, Äoblcnz, 25. Nov. Der „Berl. Volksztg." wird
^"tteben : Vor dem Oberkriegsgerickst erschienen am 19.

^ d -h n Ka n o ni e r e der 6. Batterie des Feldartille-
tz>.^!ÜMents Nr. 69, die wegen monatelang fortgesetzter
^,handlung jüngerer Kameraden zu
h n g n i s st r a f e n von drei Monaten bis
cht Tagen vom Kriegsgericht verurteilt worden
' , Der Geri-chtsherr hatte Berufung eingelegt wegen
^ ^Edrigen Strasmatzes. Geradezu schrecklichs Zustände
i>^ durch die V-erhandlung enthüllt, die jahrelang bei
^-.^tterie -herrschten. Der Unteroffizier und spätere
!i,,,^vreister Schott ist wegen fortges-etzter Miß-Hand-
>> v c. llnter-gebener zulJahrOTagen

^egradation verurteilt worden.

e f ä n -g n r s
Er h-at jahre-

der Stube fast täglich seine Unterg-ebenen durch
ichläge ans die Nase mißhandelt, beim Stalldienst
ft, Üe mit der Peitsche; 'den älteren Leuten -befahl
Rejruten zu mlßhandeln, und daraufhin begann
>ä^m!chw.atisches Prügeln der Rekruten. Beim Stalldienst
ät < ^ die Rekruten fünfzigmal die Stallgasse anf und
sie wurden dann mit Besensftelen, Zaumzeug,
i>ie^urten geschlagen, Karren wurdeir aufgestellt, damit
djx ^ufenden stolperten und zur Erde fielen, dann wurden
i>ix lu Boden liegenden Leute mit Füßen getreten. Wenn
leren Leute sich weigerten, die Mißhcmdlungen aus-
dann mußten diese in der glühenden Sonne
Kopfbedeckung stehen, Kniebeuge machen, sftindenlang

öie Egge in der schlammigen Reitbahn ziehen. Dsr Un-
tero-ffizier kommandierte die alten Leute tzum -Putzen
störriger Pferde, wenn die Rekruten schlecht zurecht kamenc
Die Rekruten wnrden dann mit Lem Pferdeputzzeug ge-
stoßen, mit den Mstschauseln geschlagen und mit Füßen
getreten. Das Oberkrisgsgericht Veiyvarf die Berusung
des Gerichtsherrn, indem es ausfü'hrte, daß in den letzten
Jahren der Ueb-elstand eingerisssn sei, daß die älteren
Leute die Rekruten mißh-andelten- und unberechftgter Weise
Dienstleistungen verlangten. Diesem Uebelstande sei mit
strengen Strafen entgegenzutr-eten. Jn dem vorlieg-enden
Falle seien die Mißhandlungen untex dem Einfluß Schotts
erfolgt, d-er die Leute zu den Mißhandlungen -geräd-ezu
ermuntert und gezwungen habe. Es sei darum nicht er-
sorderlich, die Strafe zu erhöhen.

— Magdeburg, 30. Nov. Wegen der Aufführnng von
Beyerleins Militärdrama „Z a p f e n st r e i ch" ist über
das Stadttheater der Militärboykott vsrhängt
worden. Das Stück, dessen Helden einem „Magdeburger
Ulanenregiment Nr. 28" angehören, hatte 'hier bei der
ersten Aufführung ein-en besonders stürmischen Erfol-g.'
Schon bei Lieser ersten Aufführung war nicht einen einzige
Uniform im Zuschauerraum sichtbar.

— Von der Gräfin Kwilecka. Ueber ein Jnterview
mit der Gräfin Kwilecka berichtet der „Berliner Börsen-
kurier": Die Gräfin wohnt bei einem Freunde ihrer Fa-
milie, J-ustizrat v. Sikowski. Daß sie eine fvszinierende
Persönlichkeit ist, diesen Eindruck haben alle gewonnen,
die diese Fr-au im Jusftzpalast auf der Anklagebank ge-

sehen haben. Wenn man mit ihr im Galon ein Stünd-
chen verplandert hat, weiß man genau, daß die S-chloß-
herrin von Wroblewo die echte „prninlc- clnine" voll Tem-
perament, Geist und Klugheit ist und datz sie- eine unleug-
bare Energie besitzen inuß. Die Gräsin ist von einer
Elastizität, Frische und Lusttgkeit, als wenn sie unmittel-
bar von Ler Riviera käme und nicht aus dem Unter-
suchungsgefängnisse, wo sie 10 Monate „verlebt" hat. Sie
trug dasselbe schwarze Kleid, in welchem sie immer auf
der Anklagebank erschien, aber im Gürtel fteckten zwei
Rofen. Die Gräfin erzä-hlte, wie es ihr in der Unter>-
suchungshaft gegangen ist, sprach auch sonst manches über
den Prozeß, über ihre Verwandten usw. Aus die Frage:
„Sie werden wohl jetzt nach dem Südeii reisen?" antwor-
tete sie: „Nein! Jch bleibe bis Montag in Berlin, dann
reise ich zu meinem Bruder, dann muß i-ch den zahlreichen
Einladungen- Folge leisten, die unsere Freunde aus der
polnischen Aristokratie an mich -gerichtet haben. Von Ber-
Iin bin ich jetzt eiitzückt. Sie werden das bogreiseii! Jm
Januar komme ich zurück. Jch gedenke, mich auf längere
Zeit hier niederzulassen: ich will meinen Sohn hier er-
ziehen lassen. Und wissen Sie, was ich im Janu-ar hier
vorhabe? — „Nun?" — „Jch werde einKonzert ver-
anstalten und bei diesem Konzert selbst singen! Ein
Wohltätigkeitskonzert, das geht ohne Aveifel."

— Ein Kinderballon, der in Brüssel aufgelassen war,
ift bis nach Neubvandenburg in Mecklenburg-Strelitz ge-
flogen.
 
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