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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

DOI Kapitel:
Nr. 256 - 280 (2. November 1903 - 30. November 1903)
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AWeLtes BLsrLL»

4S. zahrgW. ^ 267

Smstllg, 14. November 1963.

«r,ch«t»t tSsltch, ^onntag, an^enomme«. P«i« mtt Famllk»dlSttrrn mou-tüch ÜV Pfg. t»', Ha«, ,«tnacht. be« d« «rpeditt»» «» b« Sveigstattone» abgeholt 40 Pfg. Dnrch dte OO

dqoqm »irrtetjähritch 1.« Rk. aaitsthNetzltch ZasteLgcbühr.

*»,«t,e»»rei,: W Pfg. für dir Ifpalttg« Pettchelle »der dere» «aum. Reklamezeile 40 Pfg. Für htrfi^ «cschäft,. u«d Prt»at»«^ig«» «rMtzigt. - FSr die Aufnahme von
«l desttmmte» Tagen wird keine Berantwortlichkeit Sder«omm«. — »»schlag der Jnserate anf de» Plackattafrl« der Heidelberger Aettm« nad den stSdtischen Anschlagstelle«. Fernsprech«r

Freihändlev und Chamberlainisten in
Birmingham.

London, 12. Nov.

Tn Birmingham herrscht Stille vor dem
. Eurm. Sämtliche Zeitungen, auch die Protektionisti-
ssyen Blätter fordern die Bürger auf, sich möglichst ge-
?7,et zu betragen, die Fenster des Stadthauses ganz zu
<^1en, und eine Wiederholung der Vortommnisse am 18.
7"^einber 1901 zu verhüten, und doch sagt sich jedermann,
das lebhafte Temperament der Anhänger Mr. Cham>-
^rlains kennt, daß es heute Abend, bei der von Lord
^Ugh Cecik und Mr. Winston Churchill einbcrusenen
. ^sammlung einen ganz fürchterlichen Skandal geben
, ^d. Von den guten Absichten der Chamberlainisten
ein Plakat beredtes Zeugnis ab, das gestern von 10
, ^nnern durch die Stadt getragen wurde und das folgen-'
^ Jnhalt hatte:

Männer von Birmingham!

Wollt Jhr den Radikalen gestatten,

11 nsernr Io e

^gegenzutreten? -- stadthaus. — Mittwoch. — 7p. m.

Chamber lainsquare.

K ommt zu Tausenden!
tltach einem solchen Aufruf, der im Grunde weiter nichts
'llls eine Aufreizung zur Gttvalttat, kann man sich schon
^ 1 etwas gefaßt machen. Ter Herzog von Devonshire

tcir

es riicht für angebracht gehalten, än der Versammlung

^^zunehmen, aber sr hat sich mit den Zwecken und Zie-
dex Einberuser in einem Briefe identifiziert, der heute
allen Morgenblätern abgedruckt wird. Auch er hält
^ !ur notwendig, daß sie den alten Grundsatz „audiatur
.Zltera pars" — man mnß sie billig hören beide — nicht
außer acht lassen, aber es ist leider nicht zu erwar-

te«

Zen

1>aß man in der Aufregung, die offenbar in der gan-
sck^ ^Eadt herrscht, seinen Worten große Aufmcrksamkeit
/^ukt. Es ist hierbei nicht unangebracht, die Vorgänge
18. Dezember 1901 ins Gedächtnis zurückzurufon. Es
angekündigt worden, daß Mr. Lloyd-George eine
idrache halten werde, und die politifchen Rowdies von-
EPlngham hatten mit einer wüsten Agitation gut vor-
Eintrittskarten waren zu Hunderteu gefälscht
^^den, uiil, das Resultat war, daß der Nedner sich durch
^ ^ Hintertüre retten mußte, um nicht einfach totgeprügelt
werden. „Tausende", so schrieb ein unianistisches
, am solgenden Tage, „standen aus den Bänken, sair-
brüllten, trampelten, belltcn wie Hunde, miauten
Katzeu, klatschten in die Hände und trommelten mit den
l^rstöcken. Ein Stein nach dem andern kam durchs
geflogen, jedesmal von den im Saale besindlichen
^ eiucm wüsten Beifallsgebrüll begrüßt. ..." Es
der Tat ein grimmiger Hnmor der Geschichte,

Jm Drachenboot.

^ London, 10. November.

nnserer schnellebigen Zeit spricht man gewöhnlich
^ uichi uiehr von Ereignissen, die schon drei oder mehr
ej^^ zurückliegen. Das Unternehmen Mr. Codys, in
Eleinen, von einem Drachen gezogenen Boot über
tl, . ^ermelkanal zu fahren, ist so originell, daß es sich
" verlohut, darauf zurückzukommen.

„Drachenboot" ist vielleicht das schwächste Fahr-
ltz ^as je über den Kanak gekommen ist. Es ist nur


^ '!>uß lang und sein Gewicht beträgt nicht niehr als vier
dj^uex. Nach Urt der „Seelenverkäufer" mit wasser-
^einwand gegsn das allzu leichte Eindringen des
geschützt, ist nur der Kasten in der Mitte sür den
^ ^ P'asscnwm frei, der sein eigener Kapitän und Steuer-
l>UA ^uß. Der Gefahr von Explosionen ist es nicht
tz^^.ietzt, da es keine Maschine besitzt, ja, der kühne
iijßj -sU' »immt nicht einmal Ruder mit, sondcrn er über-
!'ch gauz und gar dcm Winde, der da bläst, von
dj^,- ^u er will. Man sollte es kaum glauben, daß auf
Pieise eine auch nur mößige Geschwindigkeit erreicht
Äu ^ lunn, aber der Drache ist in der Lat von so großer
sich ^'^aft, daß er auch wohl ein schwereres Fahrzeug mit
^iiien vermag. Er ist nach japanischer Art gebaut
uicht weniger als 15 Fuß vou einem Flügeb


bis

zum anderen.

den Anschein, als ob die Ueberfahrt von der
ky^usischen -Seite aus leichter ins Werk gesetzt werden
«Hg-.'.uls von der englischen, denn auch Holbein, der kühne
Tchwimmer, ist bekanntlich bei allen seinen Deri-
^lle v Dover nach Calais- zu schwimmen, ges-cheitert.
^ugs ist es ihm auch nicht geglückt, von Calais nach
kommen, aber das hat er bis dato nur ein ein-
Pial versncht, und fo kann man diese Ausgabe noch

wenn dem -Sohne des Premierministers, unter dessen
Verwaltung der Burenkrieg begonnen und durchgeführt
wurde, an demselben Orte das Schicksal zuteil würde, wie
üamals dem „Proburen" Lloyd-George.

Es war, wie oben ausgeführt, zu erwarten, daß die
freihändlerische Versammlung in Bir-
ming h a m nicht ohne erhebliche Ruhestörungen abgeh-en
werde, denn die fanatis-chen Anhänger 'des großen Pro-
pheten von Virmingham -hatten alles getan, was in ihrer
Gewalt stand, um die urteilslose Masse anf das höchste zu
reizen, und diejenigen Leute, die sür einige gute Worte
und einige Gläser schlechten Bieres zu allem bereit stnd,
den Psad ihrer Tugend zu lenken. letzter Stunds
freilich, als 'die unionistische Presss im- ganzen Reiche er-
klärte, er wäre ' ein -e Schande für Birmingham,
wenn- man der anderen Partei nicht gestattete, ihre Mei-
nung zum Ausöruck zu bringen, än'derte sich der.Ton,
und man versuchte Oel auf die Woge zu gisßen, die man
selbst erst in Wallung -versetzt. Auch Mr. Vince, der Se-
kretär der von Chamberlain ins Lebe'n gerufenen „Tarif-
Liga" ermahnte seine guten Freunde zur weisen Mäßi-
gung, und fügte hinzu, sie würden bald eine bessere Ge-
legenheit bekomnten, ihre M-einung zum Ausdruck Zu
bringen. Alles das hätte aber sicher nicht mehr viel ge-
holfen, und die beiden konservativen Freihändler Lord
Hugh Cecil und Bkr. Winston ChurchiIl hätten
weit sch-limmere Erfahrungen gemacht, wenn ni-cht ein
mächtiger Faktor zu ihrpn Gunsten hinzugekommeu wäre:
die B i r m i n g h a m e r Polizei. Die erste uud beste
Vorsichtsmaßregel derselben war die Errichtung von
Barrikadenum das ganzeGebäude und 'die
Absperrung des Terrains für jeden, der nicht mit einem
Billet versehen war. Die Balken waren so dick wie Ele-
fantenb-eine, und die Eiferer versuchten wohl sie zu durch-
brechen, aber vergsbens. Jn der Halle selbst ging es na-
türlich auch ziemli-ch lebhaft zu, da erstens der Enthusias-
mus der zu Tausenden erschisnenen Freihändler ein
großer war, und zweiten-s trotz der Norsicht, mit der die
Einlaßkarten verteilt worden waren, doch- etwa hundert
Ch-amberlainisten, oder Tarifresormer, Zutritt gewonnen
hatten, und st-ch nach Krästen durch- Zwischenrufe bemerk-
bar zu macheu versuchten. Sie schwiegen aber still, als
die Versammlung Mien-e machte, ein Beispiel an ihnen
zu statutiereu, und ein Dutzend Polizeih-elme an jsder
Seite 'des Saales auftauchten. Die Redner des Tages -hat-
ten eineü begeisterten Empfang, ganz ü ln Chamberlain,
frsihändlerisch- bearbeitet. Es wurden patriotische Lieder
gesungen, und als der Vorsitzend-e sich erhob, um die Red-
ner vorzustellen, erscholl rninutenlanger donnernder Bei-
fall, in -den sich nur sehr schwaches Zischen mischte. Mr.
Winston Churchill becmtragte die Resolution des Abends,
die weit schärfer und entschie'dener war, als man allgemein
vermutet hatte und ganz klar zeigt, daß die konssrvativen

nicht in das R-eich der Unmöglichkeiten verweisen. Jeden-
falls wäre es wunderb-ar, wenn dem Schwimmer das un-
möglich bliebe, was Mr. Cody mit Hilfe eines- Trvchen
vollbracht hat. Beide Versuche haben -allerdings das -ge-
meiu, daß sie keinen praktis-chen Wert haüen, soudern nur
einen Sieg menschlicher Krast und Energie iiber die Ele-
mente bedeut-en. Das Resultat Mr. CodyZ läßt iich in
seiner eigenen V-e-merkung zusammensasseu: „Fch habe 460
Mark auf d-ie Versnche verwandt, aber dagegen habe ich
11 Mark gespart, indem ich iu meinem eigenen Boot von
Calais uach Tover fuhr, anstatt mst dem Postdampfer.

Mr. Cody brachte mehrere Tage iu Dooer zu. iu der
Hoffnuiig, cinmal recht günstigen Wind zu bekvmmen,
und er wollte l-.m Doni erstag schou wieder abrciseu, vhne
einen Verfuch -gemacht zu haben, versäumte jedoch seinen
Zug nach London. Am F-reitag srü-h sah er zu seiner
Freude, daß ein ziemlich scharser 'Wind- gerade in der Rich-
tung von Calais nach Dover blies. Er packte sofort zu-
sammen, was er zu seiner Expedition -brauchte, und lietz
es in aller Eil-e aus den Postdampfer laden, den er gerade
noch zur rechten Zeit erreichte. Das Boot kam am zeitigen
Na-chmittag in Calais an, aber Mr. Cody trat nicht so-
fort d-ie Rückreise an, sondern wartete auf den Eintritt
der Ebbe. 'Für die Einwohn-er von Calais war natürlich
seine Ankunft und Abreise ein großes Fest, sein Boot nnd
sein Drachm wurden -gebührend angestaunt, und als er
sich um ^8 Uhr abends anschickte, in See zu stech-en, wareq
Dutzende von Leuten bereit, ihm hilfreiche Hand zu leisten,
ohne jedwed-e Vergeltrmg dafür anzunehmen. Keiner er-
bot sich jedoch, ihn auf seiner Reis-e zu begleiten. „Old
Faithful" — der „Alte Getreue", so ist der Name des
Drachen — wurde in die Luft gesandt, die Seile zo-gen
sich 'strasf, während noch soundsoviele Hände das Boot am
Lande festhielten, bis das Kommando „Let go" erscholl.

uüd' ünionistischen Freihändler besser wissen, was sie
wollen, als wie die sogenannte „offi^ielle Opposition."
Die Resolution „erkennt das Recht der Regierung an, in
besonderen Fällen Kampfzölle z-ur Anmendung zu brin-
gen, verurteilt aber auf das Strengste den Versuch, durch
eiuen allgemeinen Tarif die Nahrungsmittel des Volkes
zu verteuelln-, da dieser Versuch für die Einigkeit des Rei-
ches verderblich sein müsse u. der Wöhlsahrt der arbeitenden
Klassen nur Abbruch tun könüe." Währ-end Mr. Winston
Churgill in längerer geistvoller Rede die Rssolution be-
gründete, hatte sich draußen -auf deni Platze, natürlich-
außerhalb der Barrieren, eine nach vielen Tausenden zäh-
lende Menschenmenge angesammelt, die ihr Bestes t-at,
durch einen ungcheuren. Skandal die Versammlung zrr
sprengen, aber v-ergeblich. Als sich ücmn Lord- Hug-H Cecil
erhob, begann die Sa-che eine drohende Gestalt anzuneh-
men, einig-e schl-agende Argumente in -Gestalt von Steinen
k-amen durch die Fenster gesaust, jedesmal von donnernden
„oornje kor <7oo" b-egleitet, aber die Polizei war auf dem
Posten, und es blieb bei den zerschlagenen Fenstern, —
die Köpfe blieben alle ganz zwischen den Schultern sitzön,
und die Redner uüd- Einberufer der Versammlung
konntm sogar 'das Lokal durch den Haupteingang ver-
lassen, ohne zu VerkleidungenÜhre Zuflucht zu nehmen.
— Es ist selbstverstäirdlich, daß die Prcsse aller Partei-
schattterungen den Bürgern von Birnnngham zn ihrer vor-
züglichen Haltung auf das- -herzlichste gratuliert, nur datz
die radikale Partei ihren Dank und ihr Lob an die Adresse'
der Polizei richtet, während die unionistische Presse die Bür-
ger selbst löb.en, imd die rein protektionistischen Blätter
ganz offen erklären, daß Mr. Ch-amberlain selbst „seinen
Gegnern gestattet habs, zu reden". Wer auf die Ursachen
kom-mt es j« in solchem Falle gar nicht an, soüdern nur
auf das Resultat.

AusLarrd.

Oesterreich-Ungarn.

Budapest, 13. Nov. (Franks. Ztg.) Um 1Ü/2 Uhr
früh wurde die Sitzung des Ab g e 0 r d n e te n h a u s es
endlich wieder für ösfentIich erklärt. Es kam zn sehu
erregten Szenen. Ministerprästdent Graf T isza emp-
fahl die Annahme seines Antrages, die Rekruten-
vorlage auf die Tagesordnung zu setzen. Tisza be-
zeichnete das Vorgehen der Obstruktion als „kindischsn
Streich" und geißelte unter d-em stürmischen Beifall der
Iiberalen Partei das Verhalten der O-pposition, wel-
-ches dem Lande unermeßlichen Schaden bringe. Die Prv-
testrufe d-er Opposition wurden von -der liberalen Partei
niedergeschrieen. Die Opposition widersetzte sich speziell
dem Antrag, auf Freitag Vormittag eine Sitzung abzu-
,halten. Der Redekam-Pf wä-hrte bis 2 Uhr früh und en-
dete mit einer vollkommenen Niederstimmung der Ob-

und mit einem plötzlichen Ruck „Lola" die erste Reise an-
trat, die von Erfolg begleitet sein sollte. Di-e gutsn Leüte
von Calais schrieen -begeistert „Wive Cody", „Vive
L'A-märique" uüd- „Vive Linventeur", und dann entschwand
das kleine Fahrzeug, vorläusig von einem Lotsen geleitet,
rasch ihren Blicken. Die sechs Rudersr in dem- Lotsenboot
konnten jedoch nicht lang-e init d-em Drachen Schritt halten,
und als beide B-oote eine reichliche Meile vom Lande ent-
fernt waren, rief Cody seinen- Begleitern zu, sie sollten um-
kehrsn.

Nun überli-eß er sich seinem Schicksal nnd dem Winde,
der ihn nordostwärts trieb, zu seinein großen Leidwesen,
denn er verlor viel Zeit dadurch, und wußtc schließlich
kaum noch wo >er war, als vor ihm die Goodwin-Jnseln
auftauchten. Das war ein gesä-hrlicher Platz, denn die
See, die diese Jn-seln umspült, enth-ä-lt gesöhrliche Klippen
und Strudel. Unmittelbar darauf mußte Cody die un-
an-genehme B-emerkung ma-chen, daß d-er Wind stch legte,
und sein „Alter Getreuer" i-mm-er tieser sank, so daß eu
stch schließlich genötigt sah, ihn ganz einznziehen. Dio
Wellm trieben ihn nun hin und- her, und er kam einmal
bis ganz in die Nähe des Seebades Ramsg-ate, in der Nähe-
der Them-semündung. Es -gelang ihm jedoch nicht, sein
Fahrzeug in dieser Richtung weiter zu stsuern, denn der
W'ind erhob sich -wieder und- tri-eb ihn -gerade in der Rich-
tung, von der er gekommen. Er wurde aber doch nicht
Lis nach der französischen Küste zurückgetrieb-en, sondern
Lrachte es fertig, um die Goodwin-Jnseln hsrum nach-
Dover zu zu steuern. Knrz vor Dover legte sich der Wind
wieder, absr Cody -hatte nun die Flut zu seinem Bundes-
genossen, d-ie ihn direkt dem Ufer zutrieb. Nach 13stün-
diger Fahrt kam er, hun-grig und verfrorsn, an einer
Landungsbrücke in Dover an, wo hilfreiche Hände sofort
wieder bereit waren, sein Boot ans Ufer zu ziehen.
 
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